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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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ich, mit neutraler Stimme, erstaunlich ruhig, daß ich niemals gesagt hätte, sie nicht küssen zu wollen. Und warum küßt du mich dann nicht? sagte sie und wandte sich mir zu, um mich an die Schulter zu fassen. Ich versteifte mich, stieß ihre Hand so sanft wie möglich weg und begann erneut, das nächtliche Viertel zu betrachten. Mit derselben ruhigen, fast ausdruckslosen Stimme, einer Feststellung gleich, antwortete ich: Ich habe auch nie gesagt, daß ich dich küssen will. (Es war zu spät, Marie, es war zu spät jetzt.) Sie schaute mich lange vor dem Fenster an. Laß uns schlafen gehen, Marie, sagte ich, laß uns schlafen gehen, es ist spät, und ich sah, wie ein langgezogener Schauer über ihre Schultern glitt, ein Schauer der Niedergeschlagenheit und des Ärgers. Fast hätte ich noch etwas hinzugefügt, aber ich sagte nichts, ich hielt mich zurück, legte sachte die Hand auf ihren Unterarm, und sie zog mit einer heftigen Bewegung ihren Arm weg. Du liebst mich nicht mehr, sagte sie.
    Sieben Jahre zuvor hatte sie mir erklärt, daß sie bisher bei keinem ein solches Gefühl empfunden hätte, eine solche Gemütsbewegung, eine solche Woge von süßer warmer Melancholie war über sie gekommen, als sie mich diese so schlichte, so scheinbar nichtssagende Geste habe machen sehen, wie ich während des Essens ganz behutsam mein Stielglas dem ihren näherte, ganz vorsichtig und gleichzeitig so unpassend für zwei Personen, die sich noch nicht richtig kennen, die sich erst das zweite Mal treffen, mein Stielglas dem ihren näherte, um die Rundung ihres Glases zu liebkosen, es neigte, um es sachte an ihres zu stoßen in einem simulierten, ansatzweise ausgeführten wie sofort auch unterbrochenen Akt des Anstoßens, noch draufgängerischer und gleichzeitig taktvoller und eindeutiger zu sein, wäre nicht möglich, hatte sie mir erklärt, ein Konzentrat an Intelligenz, Sanftheit und Stil. Sie hatte mir zugelächelt, in der Folge gebeichtet, daß sie in diesem Moment sich in mich verliebt hätte. Nicht durch Worte also war es mir gelungen, ihr dieses Gefühl von Schönheit des Lebens und Gleichklang mit der Welt zu vermitteln, das sie so intensiv in meiner Gegenwart empfand, auch nicht durch meine Blicke oder meine Handlungen, vielmehr durch die Eleganz dieser einfachen Geste meiner Hand, die sich langsam zu ihr hin bewegt hatte mit einer solch metaphorischen Feinfühligkeit, daß sie plötzlich innigste Übereinstimmung mit der Welt empfunden hatte, daß sie mir einige Stunden später mit derselben Kühnheit, derselben naiven und frechen Spontaneität sagen mußte, das Leben ist schön, mein Liebling.
    Marie zog ihre Bluse aus, ließ sie vor dem Fenster des Hotelzimmers zu ihren Füßen fallen und ging mit nackten Schultern, nur noch diesen zarten schwarzen Büstenhalter mit Spitzen tragend, den ich so sehr liebte, zum Bett und schaltete dort eine Lampe an. Erst jetzt bemerkte ich das Chaos, in dem wir das Zimmer hinterlassen hatten, um zu Abend essen zu gehen, Dutzende von geöffneten Koffern standen da im schwachen, durch den Schirm gedämpften Licht der Nachttischlampe auf dem Teppichboden herum, annähernd hundertvierzig Kilo Gepäck, die Marie am Abend zuvor in Roissy aufgegeben hatte, achtzig Kilo Übergewicht, das sie ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert und sofort auf Heller und Pfennig am Schalter der Fluglinie bezahlt hatte, verstreut standen sie da im Zimmer, acht gepolsterte Metallkoffer und vier identische Überseekoffer, mit einem Teil der Kleider ihrer letzten Kollektion, dazu eine Reihe von spitz zulaufenden Reisekoffern, halb aus Korbweide, halb aus Metall, extra für den Transport von Kunstwerken entwickelt, in denen die Experimentalkleider aus Kevlar-Titan waren, von ihr für eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst entworfen, die sie nächstes Wochenende im Contemporary Art Space von Shinagawa eröffnen sollte. Marie war Modedesignerin und bildende Künstlerin in einem, sie hatte in Tokio vor einigen Jahren eine eigene Marke kreiert, Allons-y Allons-o . Ich betrachtete sie, sie hatte sich flach aufs Bett fallen lassen, mitten auf ihre Kleider, die unter dem Gewicht ihres Körpers die Form verloren hatten und nun in trägen Kaskaden zusammenfallenden Stoffs zu Boden rutschten, und sie weinte, mein Liebling, das Gesicht vergraben in einen Kleiderbesatz, der sich mit ihren Haaren vermengte. Vor einigen Monaten war ihr Vater gestorben, und jetzt mischten sich in ihrem Herzen so viele Tränen, die seit Wochen
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