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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs
Autoren: Nickolas Butler
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hatte, vermutete aber, es war an dem Wochenende in New York gewesen, als wir zu Lees Hochzeit dort waren.
    Er war immer noch im Haus und bereitete sich vor. Dazu hatte er bereits zwei weitere Vicodintabletten geschluckt und mehrere Gläser Whiskey getrunken. Ich konnte ihn durchs Fenster sehen, wie er hin und her lief, und plötzlich musste ich an eine Geschichte denken, die mich als Kind immer sehr beeindruckt hatte – die Geschichte eines Farmers in der Nachbarschaft, der beide Arme an einen gefräßigen Mähdrescher verloren hatte. Der Mann – ein Freund meines Vaters – war in aller Seelenruhe zurück nach Hause gelaufen, hatte sich in die Badewanne gelegt und dann mit einem zwischen die Zähne geklemmten Bleistift die Notrufnummer gewählt. Er saß in dem eiskalten Wasser, bis ihn die Sanitäter fanden, am ganzen Leib zitternd, stark blutend – aber am Leben. Er spuckte den Bleistift aus und sagte mit gepresster Stimme zu den Sanitätern: »Ich hab sie draußen beim Traktor gelassen.« Er meinte seine Arme. Man nähte sie ihm wieder an und er fuhr mit seiner Farmarbeit fort, als wäre nichts gewesen. Mein Vater erzählte die Geschichte immer wieder gerne und verkündete dann zum Abschluss jedes Mal: »Das sagt doch wohl alles, was man übers Leben wissen muss, oder?«
    Endlich kam Lee aus dem Schulhaus. Er hatte nur seine weißen Unterhosen an und hielt eine Holzrolle in derHand, auf der normalerweise das Küchenpapier steckte. Er wirkte geradezu beängstigend entschlossen, wie er sich unbeholfen auf mich zuschleppte. Er legte sich vor mir auf die Erde und bedeutete mir, ihn mit dem Knie am Boden festzuhalten. Und dann kniff er die Augen zusammen, zeigte auf die Zange in meiner Hand und schob sich den Holzstab zwischen die Zähne. Ich tat, was er von mir verlangte.
    Und dann lag er unter mir und kämpfte gegen mich an, rollte sich in seiner mittlerweile dreckverschmierten Unterhose auf der Erde herum, die Zähne fest in den Holzstab vergraben, das Bein rot mit Blut lackiert. Und ich nagelte ihn mit meinem Knie im Schmutz und Kies und den verstreuten Grasbüscheln fest, hatte die Nadelzange halb in der blutigen Wunde vergraben und suchte irgendwo in all dem Gewebe nach der Kugel, die am Vortag in sein Bein gefeuert worden war. Die Erde klebte an unseren schweißüberströmten Körpern, unsere Hände waren voller Blut und in unseren wilden, traurigen Augen standen die Tränen, und auch wenn unsere Herzen immer noch wund waren, waren sie vielleicht doch in diesem Augenblick im Begriff, ein wenig zu verheilen …
    All die Grashüpfer, Schmetterlinge und Bienen, die wir aufschreckten, während wir uns in den Brennnesseln und den Dornenzweigen der Himbeersträucher umherrollten … Und durch den Holzstab hindurch, der sich allmählich in Splitter auflöste, durch die Myriaden von Trümmern, zu denen unser Leben zerborsten war, durch gebleckte Zähne und die Wellen unerträglicher Schmerzen, durch die Betäubung des Whiskeys und des Vicodins hindurch sagte Lee –:
    »Es tut mir so leid, Mann! Es tut mir so leid!«
    Und ich, zähneknirschend, meine Muskeln ein explodierenderSchaltkreis aus rotblauen Drähten, meine Augen wie zwei Scheinwerfer, mein Körper, der vor Zittern fast auseinanderbrach, als würde ich einer Kuh beim Kalben helfen, aber schlimmer, viel schlimmer, ich sagte –:
    »Halt still, Kumpel. Halt einfach nur still. Ich kann da drinnen was spüren. Halt durch.«
    Der Kater auf Lees Veranda starrte herüber, die schwarzen Augen vorbeischleichender Waschbären funkelten, ein zu Tode erschrecktes Stinktier huschte davon … und in dem unendlich blauen frühnachmittäglichen amerikanischen Himmel flogen ahnungslos die Flugzeuge über uns hinweg und ließen ihre weißen Kondensstreifen zurück, während die Passagiere im Innern ihre Zeitschriften durchblätterten oder mit den Fingern auf ihren teuren Mobiltelefonen herumtippten, die Flugbegleiter ihre Getränkewagen durch die Gänge schoben und hoch über uns ein vereinzelter Truthahngeier seine Kreise beschrieb und das Blutbad begutachtete …
    »Halt durch, Kumpel, okay? Halt durch. Jetzt atme tief ein, für mich, okay? Jetzt. Halt durch …«
    ...
    Lange nachdem Ronny sich in den Süden aufgemacht hatte und nach Chicago gezogen war, lange nachdem Lee die Mühle gekauft, das Gebäude einer Verjüngungskur unterzogen und es in einen ziemlich einzigartigen Konzertort und ein Aufnahmestudio verwandelt hatte, lange nachdem Kip und Felicia sich ein
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