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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs
Autoren: Nickolas Butler
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kleiner ländlicher Friedhof, auf dem man mühelos die flechtenverkrusteten Grabsteine zählen konnte,um in Erfahrung zu bringen, wie viele Verstorbene unter dem schweren grünen Rasen ruhten. Wie bei einer Art Volkszählung. Alle waren zu der Hochzeit eingeladen. Lee hatte sogar eine Etappe seiner Australientournee verkürzt, um da sein zu können, und das obwohl sich Kip und Lee – wie wir alle fanden – unter unseren Freunden am wenigsten nahestanden. Soweit ich wusste, hatte Kip sich nicht ein einziges von Lees Alben gekauft. Man sah ihn nie durch den Ort fahren, ohne dass er nicht ein Bluetooth-Gerät in seinem Ohr klemmen hatte und seinen Mund hektisch bewegte – so als befände er sich immer noch auf dem Handelsparkett der Börse.
    Kip war gerade erst nach Wisconsin zurückgekehrt, nachdem er in Chicago neun Jahre mit Rohstoffen gehandelt hatte. Jahrelang, jahrzehntelang – im Grunde genommen unser ganzes Leben – hatten wir in den Mittelwellenradios unserer Pick-up-Trucks den Landwirtschaftsberichten gelauscht. Manchmal konnte man während dieser Sendungen sogar Kip selbst hören, wie er aus seinem Büro unten in Chicago mit wohlvertrauter, selbstsicherer Stimme die Schwankungen in den Zahlenreihen herunterbetete, von denen abhing, ob wir uns Zahnspangen für unsere Kinder, Reisen in den Winterferien oder neue Stiefel leisten konnten. Er teilte uns Dinge mit, die wir nicht genau verstanden, aber dennoch bereits wussten. Unser Leben war in diese Meldungen von Milch-, Mais-, Weizen- und Sojapreisen hineingewoben. Schweinebäuche und Vieh. Weit entfernt von unseren Farmen und Mühlen hatte Kip es zu etwas gebracht, indem er mit den Früchten unserer Arbeit den Markt manipulierte. Wir respektierten ihn trotzdem. Nicht zuletzt deshalb, weil er eine äußerst scharfe Intelligenz besaß. Seine Augen brannten in ihren Höhlen,während er zuhörte, wie wir uns über Saatguthändler, Pestizide, die Düngerpreise, unsere Maschinen und das launische Wetter beschwerten. Er hatte immer einen Farmer-Almanach in der Hosentasche und konnte verstehen, dass wir vom Wetter besessen waren. Wäre er nicht fortgegangen, wäre er vielleicht selbst ein erfolgreicher Farmer geworden. Der Almanach war, wie er mir einmal erzählte, im Prinzip völlig überholt, aber er trug ihn dennoch gerne mit sich herum. »Nostalgie«, erklärte er mir.
    Nach seiner Rückkehr kaufte Kip die stillgelegte Futtermühle im Zentrum der Stadt. Sie war das höchste Gebäude im Ort. Ihre sechsstöckigen Getreidesilos hatten sich schon immer über uns aufgetürmt, hatten ihre langen Schatten auf unser Leben geworfen, gleich einer Sonnenuhr, nach der sich unsere Tage richteten. Früher, als wir noch klein waren, hatte in der Anlage viel Betrieb geherrscht. Die Farmer lieferten Mais, um ihn dort zu lagern, bis die durchfahrenden Züge ihn mitnehmen konnten, oder sie kamen, um in großen Mengen Brennstoff, Saatgut oder andere Vorräte zu kaufen. Aber gegen Ende der achtziger Jahre begann es mit der Mühle bergab zu gehen. Der Besitzer hatte versucht, sie zu verkaufen, in einer Zeit, in der niemand kaufen wollte. Nur wenige Monate später fingen die Highschoolschüler an, Steine in die Fenster zu werfen und Graffiti an die Wände der Getreidesilos zu sprühen. Für den Großteil unseres Lebens war die Anlage einfach nur eine düstere Festung neben ein paar rostigen Schienensträngen gewesen, die von Unkraut überwuchert waren: Schwalbenwurz, Geiskraut und Weidenröschen. Der Boden war überall dick verkrustet mit Taubenkot und Fledermausguano und in dem alten Steinfundament stand ein See mit trübem Wasser. In den Silos wimmelte es vonRatten und Mäusen, die das übriggebliebene Korn fraßen. Manchmal brachen wir dort ein und schossen auf sie, mit Kaliber-.22-Gewehren, wobei die kleinen Kugeln nicht selten zu Querschlägern wurden, wenn sie von den mächtigen Wänden abprallten. Wir benutzten Taschenlampen, um die winzigen Knopfaugen der Tiere aufzuspüren. Einmal stahl Ronny eine Leuchtfackel aus dem Kofferraum des Wagens seiner Mutter und ließ sie in die Tiefe des Silos fallen, wo sie in scharf glühendem Rosa die schwefelige Dunkelheit durchschnitt, während wir wild drauflosknallten.
    Nach nur zehn Monaten hatte Kip den Großteil der Anlage wiederhergestellt. Er beschäftigte Handwerker aus dem Ort und beaufsichtigte jedes kleinste Detail; er war jeden Morgen der Erste auf der Baustelle und war sich auch nicht zu schade, hier und da selbst einen Hammer
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