Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs
Autoren: Nickolas Butler
Vom Netzwerk:
glücklicher als vorher, aber auch weniger bewusst. Ein Fremder, der ihm das erste Mal begegnete, würde vielleicht denken, Ronny wäre einfach nur ein wenig begriffsstutzig, möglicherweise würde er ihn auch für ganz normal halten. Aber was auch immer er dachte, er würde nie im Leben darauf kommen, wer der junge Mann gewesen war, der vorher diesen Körper bewohnt hatte. Er konnte seine Sätze nicht mehr so schnell formulieren und oft wiederholte er sich auch. Aber das hieß nicht, dass er dumm gewesen wäre, oder behindert, obwohl ich mich manchmal frage, ob wir ihn nicht genau so behandelten.
    Während seines Entzugs verbrachte Ronny mehrere Monate im Krankenhaus und oft musste er im Bett fixiert werden. Wir kamen ihn besuchen, um seine Hand zu halten. Sein Händedruck war wild und heftig und seine Adern schienen am ganzen Körper aus dem verschwitzten Fleisch hervorplatzen zu wollen. Seine Augen waren voller Furcht, eine Furcht, wie ich sie vorher nur bei Pferden gesehen hatte. Wir wischten ihm die Stirn ab und taten unser Möglichstes, um ihn am Boden zu verankern.
    Auch unsere Frauen und Kinder kamen ihn besuchen. Das tat ihm gut. Es zwang ihn, ein wenig sanfter zu werden. Unsere Kinder brachten Buntstifte und Papier mit ins Krankenhaus und malten unbeholfene Porträts von ihm. Dazu nahmen sie immer fröhliche Farben und pinselten eine leuchtende Sonne oder einen grünbeblätterten Baum neben seinen Kopf. Wenn die Kinder wieder gegangen waren,fanden wir ihn manchmal, wie er ihre Gemälde umklammerte und heftig weinte. Oder er hielt sie zärtlich in der Hand und betrachtete sie ehrfürchtig, als seien es geheiligte Artefakte. Er hob die Bilder alle auf und hängte sie später in seiner Wohnung an die Wand.
    Nach einiger Zeit entkam er dem Tunnel, und wir kümmerten uns so gut es ging um ihn, denn er gehörte zu uns und hatte keine andere Familie. Seine Eltern waren beide gestorben, als wir Mitte zwanzig waren – an einer Kohlenmonoxidvergiftung in ihrer Hütte oben am Spider Lake, in der Nähe von Birchwood. Ronny war das Waisenkind von Little Wing.
    Er war professioneller Rodeoreiter gewesen, sanft zu Pferden, brutal zu den Rindern. Er kannte sich mit Lassos aus und hatte seinem Körper auch schon vor dem Unfall etliche böse Verletzungen zugemutet. Manchmal, wenn er abends zu uns zum Essen kam, baten meine Kinder ihn, alle seine gebrochenen Knochen aufzuzählen. Die Bestandsaufnahme dauerte eine Weile.
    »Lasst mich mal nachdenken«, sagte er dann, während er sich die müden Cowboystiefel von den Füßen streifte. »Nun. Ich habe mir alle zehn Zehen gebrochen, so viel weiß ich schon mal.« Als Nächstes zog er die löchrigen Socken aus. Die wenigen Zehennägel, die er noch hatte, waren gelb angelaufen und hatten die dreckig-milchige Farbe von Quarz; es schien, als wüchsen sie seinem versehrten Fleisch zum Trotz. »Ein paar von diesen Zehen habe ich mir auch zweimal gebrochen, glaube ich. Ein wütender Stier kommt halt da auf den Boden runter, wo er gerade will, wisst ihr, und manchmal ist das dann genau die Stelle, wo du selbst stehst.« Dann nahm er sich unseren Sohn Alex, setzte ihn auf den Boden im Wohnzimmer und tat so,als sei er der Stier, der sanft auf den Körper des kleinen Jungen niederstürzte, während er ihn zugleich an Rippen, Achselhöhlen und Zehen kitzelte. »In Kalispell wollten sie mir beide kleinen Zehen abnehmen, aber ich bin aus dem Krankenhaus geflüchtet, bevor sie mich betäuben konnten. Ich kannte ein Mädel da im Ort und sie wartete draußen vor der Tür mit laufendem Motor …«
    »Diese Narbe hier«, sagte er und zeigte auf seinen bleichen rechten Knöchel, »da ist ein Stier namens Ticonderoga draufgedonnert und hat mein Bein in zwei Stücke gebrochen.«
    Für meine Kinder war es das beste Spiel der Welt – herauszufinden, wie viele Kleidungsstücke Ronny Taylor durch ihre Überredungskünste ausziehen würde, an wie viele gebrochene Knochen er sich wohl erinnerte und wie viele hässliche Narben sie mit ihren kleinen Fingern würden nachzeichnen können.
    Aber der besoffene Sturz hatte sein Rodeoleben beendet und das machte uns traurig. Ronny hatte die Schule abgebrochen, um Rodeo zu reiten, er verfügte über keine Ausbildung und keine anderen Fähigkeiten.
    Lee bezahlte seine Behandlungskosten, seine Wohnung, sein Essen und seine Kleider. Wir hatten das eigentlich gar nicht erfahren sollen, aber Rhonda Blake, die mit uns zusammen aufgewachsen war und nun im Krankenhaus von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher