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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs
Autoren: Nickolas Butler
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Wildwechsel. Ich konnte es alles vor mir sehen: wie ich fortfahren würde zu schreiben und Musik zu machen und durch die Gegend zu touren und dass ich bald Erfolg haben würde. Die ersten Zeitschriften würden Besprechungen drucken und dann Geschichten über mich schreiben. Man würde mir Aufträge geben, um Lieder für Fernsehshows zu schreiben oder auch Filmmusik, bis ich eines Tages auf einer Bühne stehen würde, mit einem kleinen goldenen Grammophon in der Hand, und eine Rede vor einem Publikum halten würde, in dem meine eigenen Vorbilder saßen. Ich konnte es sehen, weil ich an meine Musik glaubte, an meine Stimme und weil ich die Musik kannte, die ansonsten in der Welt gemachtwurde. Ich konnte sehen, dass Henry und ich uns allmählich auseinanderleben würden, schrittweise, in Abständen von Wochen und Monaten und dann von Jahren, bis er schließlich, wenn ich ihn anrief, nicht einmal mehr meine Stimme erkennen würde. Meine Freunde würden Familien gründen, Kinder haben und in gemütliche Häuser ziehen – Häuser mit müden, alten, gemütlichen Möbeln. Während ich mit Frauen ausgehen und Frauen heiraten würde, die mich erst liebten und dann verabscheuten, die nicht das Geringste von mir wussten oder verstanden, denen ich in kürzester Zeit langweilig wurde, die meine Heimatstadt verachteten und meine Freunde nur duldeten. Und dann, eines Tages, würde es nichts mehr geben, zu dem es sich lohnte heimzukehren. Keine Freunde mehr, keine Familie, keine lachenden Gesichter, keine Begrüßung, keine Gutenachtrufe. Ich sah mich, wie ich ein riesiges Penthouse kaufte oder vielleicht eine Strandvilla irgendwo an der Küste, ein Grundstück mit einer gigantischen, selbstsüchtigen Aussicht, und ich sah mich durch die Gänge des Hauses irren, rastlos, wie ein alter Hund.
    Ich senkte meine Faust und atmete Jahre der Liebe aus. Ich ging den Flur entlang, hinaus in den frühen Morgen, stieg in das Auto von Ronnys Eltern und fuhr den ganzen Weg nach Little Wing zurück.

Während wir in einem wahnwitzigen Tempo zu Lees altem Schulhaus fuhren, wirbelten wir auf den taufeuchten mitternächtlichen Schotterwegen kaum Staub auf. Aus den Straßengräben und Feldern stiegen wie lauter winzige Laternen die Glühwürmchen auf. Motten, die ihren feinen Staub über die Windschutzscheibe verteilten.
    »Ich hoffe, du blutest die Sitzbank nicht voll«, sagte ich.
    »Nur deine scheiß Mülltüte. Verdammt, tut das weh.«
    »Wir sind fast da«, sagte ich. Und das stimmte. Die Scheinwerferkegel des Wagens hatten bereits Lees Briefkasten erfasst und den ausgestopften Stier, der danebenstand. Seine roten Glasaugen spiegelten unsere Ankunft. Und dann fuhren wir auch schon die holprige Auffahrt hinauf, durch die vielen kleinen Pfützen, aus denen die Nachtfrösche panisch in Sicherheit sprangen. Lee hielt sich fest, so gut er konnte. Er klammerte sich an seinen Gurt, verzerrte das Gesicht und brummte etwas über eine neue, asphaltierte Auffahrt, und da war auch schon die Weide vor seinem Haus, auf der ein Dutzend oder mehr Rehe standen und ihre traurigen Köpfe drehten, um uns entgegenzustarren. Und die Lichter seines Hauses und die Garage und die Nebengebäude. Ich fuhr so nah an die Haustür heran, wie ich konnte, schaltete den Motor aus und lief um den Wagen herum. Lee machte bereits Anstalten, ganzvorsichtig auszusteigen. Als ich ihn erreichte, legte er einen Arm um meine Schulter und wir stolperten zusammen ins Haus.
    »Bring mich einfach ins Bad, okay?«, sagte er. »Stell mich unter die Dusche. Das ist dann schon mal eine Sauerei weniger.«
    »Gute Idee«, sagte ich, auch wenn es mir herzlich egal war, wie viele Blutspuren er in seinem Haus hinterließ. Diese Sauerei hatte Lee zu verantworten. Lee ganz allein.
    Mit seiner Unterstützung zog ich ihm die Hose aus, dann die Unterhose und die Socken. Schließlich knoteten wir das Hemd an seinem Bein auf, das als Tourniquet gedient hatte.
    »Mein Gott, bist du bleich.«
    »Ich werd das alles wegschmeißen«, sagte er. »Es verbrennen. Das war echt die übelste Nacht in meinem Leben.« Dann kroch er in die Badewanne und ich ließ das Wasser ein. Ab und zu prüfte ich mit der Hand die Wassertemperatur, bis meine Finger ganz rosa und schließlich knallrot wurden.
    »Soll das Wasser heiß sein?«
    »Klar, heiz mir so richtig höllenmäßig ein. Scheiß verdammte eingelegte Eier.«
    Das Bad füllte sich mit reichlich Dampf. Ich setzte mich auf den Toilettendeckel, hörte zu, wie das Wasser
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