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Shon'jir – die sterbende Sonne

Shon'jir – die sterbende Sonne

Titel: Shon'jir – die sterbende Sonne
Autoren: C.J. Cherryh
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Posten draußen blickte im Moment anderswo hin. Er berührte den Rücken von Niuns langgliedriger Hand, unterhalb der Fessel. Der Mri war ständig sorgfältig festgebunden, denn man befürchtete, daß Niun an den Wunden zerren würde, wenn er die Möglichkeit dazu fand. Andere gefangene Mri hatten das gemacht und sich auf diese Weise selbst getötet. Keiner war jemals am Leben erhalten worden.
    »Niun«, wiederholte er, beharrlich in dem, was zu einem zweimal täglichen Ritual geworden war – um dem Mri zu zeigen, wenn schon nichts anderes, daß es noch jemanden gab, der seinen Namen aussprechen konnte; um ihn zum Denken zu bringen, an welch fernen Ort sein Bewußtsein auch wanderte; um einen Kontakt zu seinem betäubten Verstand herzustellen.
    Niuns Augen schienen sich kurz auf ihn einzustellen und gaben es wieder auf, verschleierten sich, als die Membran sich über sie legte.
    »Ich bin Duncan«, beharrte er und schloß die Hand kräftig um die des Mri. »Niun, hier ist Duncan.«
    Die Membran glitt zurück, die Augen wurden klar. Die schlanken Finger zuckten und schlossen sich fast. Duncans Herz hüpfte hoffnungsvoll, denn dies war der erste Hinweis darauf, bei Bewußtsein zu sein, den der Mri gegeben hatte, ein Beweis dafür, daß der Verstand und der Mann, den er kannte, unversehrt waren. Duncan sah, wie die Augen des Mri durch den Raum wanderten, auf der Tür verweilten, wo der Posten war.
    »Du bist noch auf Kesrith«, sagte Duncan leise, damit der Posten nichts mitbekam. »Du bist an Bord der Sonde FLOWER, dicht außerhalb der Stadt. Kümmere dich nicht um diesen Mann. Er bedeutet nichts, Niun – es ist alles in Ordnung.«
    Möglicherweise verstand Niun, aber die bernsteinfarbenen Augen verschleierten und schlossen sich wieder, und er glitt zurück in den Griff der Drogen, frei von Schmerz, frei von Begreifen, frei von Erinnerungen.
    Sie waren die letzten ihrer Rasse, Niun und Melein – die letzten Mri, nicht nur auf Kesrith, sondern überhaupt. Das war der Grund, warum die Wissenschaftler sie nicht gehen lassen wollten. Dies war die Möglichkeit, das Rätsel der Mri zu lösen, die sich hiernach nie wieder bot. Hier auf Kesrith waren die Mri gestorben, in einer Nacht des Feuers und des Verrats – alle, alle außer diesen beiden, die als traurige Kuriositäten in den Händen ihrer Feinde überlebten.
    Und sie waren durch Duncan da hineingeraten, durch Duncan, dem sie vertraut hatten.
    Duncan drückte Niuns gefühllose Schulter und wandte sich ab, hielt inne, um durch das dunkle Glasabteil in den Raum zu blicken, wo Melein im Schlaf lag. Er besuchte sie nicht mehr, nicht seitdem sich ihr Zustand gebessert hatte. Unter Mri war sie heilig gewesen, unantastbar; ein Außenstehender sprach mit ihr nicht direkt, sondern durch andere. Was sie unter ihren Feinden auch an Einsamkeit und Schrecken ertrug, war nicht schlimmer als die Erniedrigung. Sie mochte ihre Feinde hassen und mißachten; aber ihm gegenüber, dessen Namen sie kannte, der sie gekannt hatte, als sie frei war, empfand sie vielleicht tiefe Scham.
    Sie schlief friedlich. Duncan betrachtete für einen Moment das sanfte Heben und Senken ihrer Brust, überzeugte sich davon, daß sie es gut und bequem hatte, drehte sich dann um und öffnete die Tür, murmelte dem Posten abwesend Dankesworte zu, und der Mann ließ ihn aus dem Bereich, der Restriktionen unterlag, in den äußeren Korridor hinaus.
    Duncan stieg auf das Hauptdeck des überfüllten Forschungsschiffes hinauf, wich weiß-uniformierten Wissenschafts-Techs und blauuniformiertem Stabspersonal aus, ein Mann, der nicht auf die FLOWER gehörte. Sein eigenes Khaki-Braun war die Uniform der ObTak, der Taktischen Oberflächenwaffe. Wie das wissenschaftliche Personal der FLOWER war er ein Experte; seine Fähigkeiten wurden jedoch nicht mehr benötigt, weder auf Kesrith noch sonstwo. Der Krieg war vorbei.
    Er war geworden wie die Mri – überholt, ohne Verwendung.
    Er meldete sich von der FLOWER ab, eine klerikale Formalität. Die Sicherheit kannte ihn gut genug, wie alle Menschen auf Kesrith ihn kannten – den Menschen, der unter Mri gelebt hatte. Er ging hinaus auf die Rampe und diese hinab auf den Straßendamm, Teil eines Netzwerks aus Metall, das die Menschen über die pulverige Erde von Kesrith geworfen hatten.
    Nichts wuchs draußen auf der weißen Ebene, soweit das Auge reichte. Leben war überall spärlich auf Kesrith mit seinen alkalischen Ebenen, seinen toten Bergketten, seinen wenigen und
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