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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
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haben, dass eine offene Fahrt von Nizamuddin bis zum Hauptbahnhof nicht mehr dem Genuss von tausend Zigaretten gleichkommt, sondern nur noch dem Genuss der Hälfte, aber fünfhundert Zigaretten in dreißig Minuten sind eigentlich auch noch zu viel.
    Und der Fahrstil der Inder wird sich nie ändern. Es ist im Grunde kein Stil, sondern ähnlich wie bei den Bakterien eine gänzlich andere Welt. Aber eine, an die man sein Immunsystem nicht anpassen kann. Man kann nur wegsehen. Oder sich suggerieren, man säße im Kino. Animationsfilm. Die rasantesten Fastunfälle. Das Geheimnis des indischen Straßenverkehrs ist neurologischer Natur: Er fließt anders, weil die Gehirnströme der Inder anders fließen, a) in anderen Bahnen und b) in anderen Rhythmen. Wie soll man das erklären? Sie sind wie tief fliegende Schwalben, von denen man auch glaubt, sie würden jeden Moment miteinander kollidieren. Die dritte Möglichkeit, während einer Motorrikscha-Fahrt nicht permanent (und unnötig) Adrenalin auszuschütten, besteht darin, ab und an einen Blick auf den Fahrer zu werfen. Ister entspannt, wird schon nichts passieren. In diesem Fall sehe ich im Rückspiegel, dass der Mann sehr entspannt ist, möglicherweise zu entspannt. Er fährt mit geschlossenen Augen. «Unser Fahrer schläft», sage ich, und Scarlets Yogalehrer flippt völlig aus.
     
    Thema Zugkarte: Man kann in Indien nicht einfach in den Zug steigen und da das Ticket kaufen. Das geht überhaupt nicht. Man kann aber auch nicht zum Bahnhof gehen, das Ticket erstehen, noch einen Kaffee trinken und eine rauchen und dann den Zug nehmen. Man muss auf jeden Fall und mindestens einen Tag vor Reiseantritt einen Platz reservieren. Man kann aber in Indien nicht einfach an den Schalter treten und einen Platz reservieren. Die Inder haben von den Engländern drei Dinge übernommen, behalten und bis ins Absurde gepflegt: die Angst vor der Sexualität, die Eisenbahn und die Bürokratie. Um eine Fahrkarte zu kaufen, muss man ein Formular ausfüllen, das mal ein Visumantrag werden will, wenn es groß ist. Die Frage nach Vor- und Familienname des Reisenden hat ja noch Sinn, aber was wollen sie mit dem Namen des Vaters (!) und mit der Nummer des Passes und mit dessen Ausstellungsdatum und Gültigkeitsdauer? Weil in Indien Züge auch gern mal mit einem halben Jahr Verspätung ankommen und dann das Visum abgelaufen ist? Sicher nicht. Es hat keine praktischen Gründe. Die Hingabe der Inder an die Bürokratie ist religiöser Natur. Ich kann es nicht genauer erklären. Es ist nur so ein Gefühl.
    In der Reservierungshalle für Ausländer, in die mich Scarlets Yogalehrer führt, sind gut vierzig Sofas in zweiHufeisenformationen zusammengerückt. Auf ihnen sitzen etwa hundertfünfzig Rucksacktouristen. Neuankömmlinge nehmen jeweils links außen Platz, um nach rechts außen durchzurutschen. Das Ende der Reise sind die Schalter, hinter denen die Mitarbeiter der indischen Eisenbahn die Reservierungsformulare prüfen. Weil sie das gründlich machen, gehört das «International Reservation Office» im Hauptbahnhof von New Delhi ohne Zweifel zu den glücklichen Oasen des Buchmarkts. Gelesen wird hauptsächlich Englisch, Japanisch und Hebräisch sowie alle romanischen Sprachen. Wie gern hätte ich jetzt nicht meinen Tom Wolfe vergessen. Wie hätte er diese Rucksacktouristen beschrieben?
    Die israelischen Frauen erkennt man an ihrer Schönheit und ihrem militärischen Gang, die israelischen Männer sehen allesamt wie Helden aus Bibelverfilmungen aus, denn sie haben seit ihrem Abschied von der Armee weder Haupt- noch Barthaar geschoren, und die Klamotten, die sie tragen, die trägt man halt seit dreitausend Jahren, wenn das Klima mitspielt. Die Amerikaner haben sich durch die Bank für Globetrotter-Vieltaschen-Hosen und vernünftige Hemden entschieden, die Japaner erkennt man daran, dass sie Japaner sind, und dann gibt es noch die Fraktion, die sich wie Inder kleidet. Vornehmlich heilige Inder. In zwei Varianten: der weiße Heilige mit wallendem Gewand oder der wilde Heilige. Letzterer geht halb nackt, und seine Frisur ist eine perfekte Mischung aus Rastafari und Shivaismus. Beide Religionen eint die Vergötterung des Haschisch und die Verteufelung des Kamms. Ansonsten haben sie wenig miteinanderzu tun. Und es sind in der Regel die Rucksacktouristen aus Südeuropa, die so zum Bahnhof gehen.
    Mache ich mich über junge, unschuldige Menschen lustig? Ich würde sagen: nein. Ich versuche nur, mich damit ein
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