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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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sie ihn daheim erwartet.
    Eine Journalistin? Gefährlich, weil die reden würde. Eine
Lehrerin wäre ideal. Sie würden noch ein Weilchen hier in dieser Wohnung leben,
bis er sich etwas Größeres und Besseres leisten kann, und sie würde
verständnisvoll nicken, wenn er sagt: »Ich muss wieder los. Keine Ahnung, wann
ich zurück bin - vielleicht heute Abend, vielleicht nächste Woche.«
    Und wenn er nach Hause kommt und von unten, schon vom Weg
aus, zum dritten Fenster im siebten Stock hinaufschaut, wird sie am Küchentisch
sitzen und Aufsätze korrigieren. Und all die Nachbarn vom Wohnblock gegenüber
werden sie durchs Fenster sehen und denken: Ihr Mann ist weg, aber sie sitzt zu
Hause und wartet auf ihn - was für ein Glückspilz!
    Ein Beutel mit billigem indischem Tee, zwei Stückchen
Würfelzucker rein - auch ein alltägliches Ritual. Taras trinkt einen Schluck
Tee, schaut aus dem Fenster. Niemand hier zieht die Vorhänge zu, obwohl die
Gebäude unbehaglich eng beisammenstehen. Das Haus lebt seine Daily Soap und
bereitet sich auf die Nacht vor. Taras kennt die Mitwirkenden und ihre Rollen
nur zu gut. Vierter Stock, drittes Fenster von links - ein Mann in Unterhemd
und Jogginghose liegt auf dem Sofa und scheucht mit einem Wink zwei Schulmädchen
vom Fernseher weg. Eigentlich dürften sie so spät gar nicht mehr wach sein,
aber ihrem Vater ist das egal. Ihre Mutter arbeitet vermutlich als fahrende
Händlerin, wie dies jetzt viele Moskauer Mütter tun: Sie reisen in die Türkei,
schleppen von dort schwere Reisetaschen voller Klamotten an, verkaufen sie in
Russland auf irgendeinem Markt und fahren wieder zurück in die Türkei. Sie
ernähren die Familie und bekommen ihre Kinder kaum zu Gesicht.
    Sechster Stock, das Fenster gegenüber: Sie zieht nie die
Vorhänge zu, wenn sie dort am Fenstersims im BH vor dem Spiegel sitzt. Eine
alternde, einsame Frau, die sich mit routinierten kreisförmigen Bewegungen
abschminkt.
    Fünfter Stock, zweites Fenster von rechts - sie streiten
wieder. Oder vielmehr, er prügelt sie wieder. Taras kann ihren Gesichtsausdruck
nicht erkennen, aber er stellt ihn sich unterwürfig vor, schmerzverzerrt, wenn
die schweren Fäuste ihren Kiefer treffen. Warum schafft sie es nicht, ihn zu
verlassen? Soweit Taras sieht, sind keine Kinder da, und die kahlen Wände und
das rote, aufgedunsene Gesicht des Mannes lassen den Schluss zu, dass der Großteil
des Geldes für Wodka draufgeht. Wie so viele russische Frauen ist auch sie in
einer von alten Volksweisheiten geölten Tretmühle gefangen: »Wenn er mich
schlägt, dann liebt er mich.« - »Lieber einen schlechten Ehemann als gar
keinen.« Ist ihr denn nicht klar, dass sie eine andere Wahl hat?
    Taras denkt an die Akte, die er heute auf dem Schreibtisch
liegen hatte. Argumente und Fakten. Er kennt die Fakten, jetzt muss er nur noch
die Argumente liefern. Die Wahl, die er treffen
muss, ist schwerer als die Wahl der Frau von gegenüber. Er überlegt, welche
Optionen er hat - im Grunde nicht viele.
    Er kann die Informationen hinausposaunen. Er kann sie
verkaufen. Oder für sich behalten.
    Die beiden ersten Optionen würden das Leben von Millionen
Menschen verändern. Die dritte Option betrifft nur ihn und sein Gewissen. Er
beschließt, dem Rat von Oberst Surikow zu folgen, seinem Dozenten an der
Akademie: »Wenn man nicht die ganze Operation im Blick hat, sollte man klein
anfangen und sich erst dann Gedanken machen, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen
ist.«
    Er wird also mit einer Zeile der Akte N 1247 beginnen, mit
dem Namen des Archivars neben dem Datum vom 17. November 1942. Dies bedeutet
einen Abstecher in seine Jugendzeit, in die Stadt, in der er studiert hat. Nur
noch ein Telefonat, bevor er fährt, um sicherzugehen, dass sie noch lebt. Er
könnte sie nächsten Samstag besuchen. Ein ruhiges Wochenende, Erinnerungen an
die Studentenzeit. Und es braucht niemand etwas davon zu wissen. Noch nicht.
     
    2
     
    Lemberg, Westukraine, März 2001
    Die vertraute Melodie ihrer elektrischen Türklingel
ertönt. Es ist die gleiche Melodie wie damals, als er an der hiesigen
Universität studierte. Sie öffnet nicht. Inzwischen hat die Melodie keinen Anfang
und kein Ende mehr, es ertönt nur die immer gleiche Tonfolge, wieder und
wieder. Ein melancholischer Walzer, sehr vertraut. Vor einigen Jahren war
dieser Klingelton der letzte Schrei. Taras erinnert sich noch genau daran.
Jetzt ruft jeder einzelne Ton sofort eine Flut von Erinnerungen an andere
Geräusche
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