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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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Innenseite des Aktendeckels, zur Liste
der Personen, die vor ihm an dem Fall gearbeitet hatten, mit Titeln, Daten,
Zeitangaben. Archivare arbeiten ja meist sehr exakt, insbesondere
NKWD-Archivare. Das Register enthielt siebzehn Namen - überraschend wenige,
wenn man bedachte, dass der Fall ja noch gar nicht abgeschlossen war. Als
Nächstes verglich Taras sorgfältig jedes einzelne Dokument mit dem
Inhaltsverzeichnis auf der Deckblattinnenseite. Er brauchte zwei Stunden, um
festzustellen, dass drei Dokumente fehlten. Er las die Kurzbeschreibung der
Dokumente auf der Rückseite der Akte.
    Drei entscheidende, überwältigende Dokumente - mit
historischer Sprengkraft - fehlten.
    Da gewissenhaft immer wieder neues Beweismaterial in die
Akte aufgenommen worden war, hatte niemand das Verschwinden einiger früherer
Dokumente bemerkt; niemand hatte den kompletten Ordner überprüft. Bis jetzt.
Falls jemand diese Dokumente gestohlen hatte, um sie später zu verwenden ...
Taras rechnete schnell nach. Der Zeitraum für diese »spätere Verwendung« hatte
vor zehn Jahren begonnen.
    Taras las den Namen des Archivars neben dem Datum des 17.
November 1942, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, stemmte die Füße
gegen die Wand und kippelte. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, schloss
die Augen und bedankte sich grinsend bei der Glücksgöttin Fortuna, die ihm hier
seine große Chance bot. In Gedanken baute er schon eine Treppe, die ihn zu
seiner neuen Karriere führte, zu faszinierenden Aufgaben, eine Möglichkeit,
von hier zu entkommen.
    Es ist die Chance seines Lebens, und er wird sie sich
nicht entgehen lassen. Nicht jetzt. Nicht mit dieser Signatur unter dem Bericht
vom März 1962. Nicht mit diesem Namen neben dem Datum des 17. November 1942. Er
weiß, wo er die fehlenden Teile des Puzzles findet. Oder zumindest, wo er mit
der Suche beginnen kann. Jetzt gewinnt sein »Maulwurfdasein« im Archiv eine
völlig neue Bedeutung: Er hat die ganze Zeit still vor sich hin gegraben und
auf den richtigen Moment gewartet. Falls er diese sieben fehlenden Seiten
fände und in die Waagschale der heutigen Politik würfe, wögen sie weit schwerer
als die Debatten der Parlamentarier und die Tabellen der
Wirtschaftswissenschaftler. Diese Seiten würden das politische Gleichgewicht in
Europa kippen, die Geschichte verändern - und er, Taras, wäre dabei einer der
Hauptakteure.
     
    Taras tritt aus der Wärme der Metro auf die winterliche
Straße hinaus. Während des zehnminütigen Wegs nach Hause knirscht der
Pulverschnee unter seinen Füßen. Rasch läuft Taras auf seinen stinkenden,
finsteren Wohnblock zu. Der Müllschacht quillt über. Jemand hat mal wieder die
Glühbirne am Vordach herausgeschraubt. Taras fährt mit dem Lift in den siebten
Stock und fragt sich, wie man es schafft, Graffiti so tief ins Plastik zu
ritzen. Endlich steht er vor seiner Wohnung, öffnet die Tür und marschiert
schnurstracks ins Bad. Diesmal registriert er gar nicht, dass er sich die Hände
wäscht - so spät am Abend lässt die Selbstkontrolle nach.
    Er spult die allabendliche Routine ab: Kessel an, Butter
und Käse aus dem Kühlschrank, Brot aus der Plastiktüte. Dann sitzt er am
Küchentisch, zwischen Wand und Fenstersims geklemmt, stützt das Kinn in seine
feuchten Handflächen und starrt aus dem Fenster, während er darauf wartet,
dass das Wasser kocht. Die Schreie aus der Wohnung unter ihm werden lauter, man
hört Glas splittern, Türen schlagen, man hört ein Kind, das irgendetwas stammelnd
hervorstößt - nein, herausweint. »Die haben wieder vergessen, sich um Wasja zu
kümmern, diese Säufer, und jetzt bettelt er um etwas zu essen«, denkt Taras.
    Was für ein Tag der Roten Armee - in der winzigen Küche
eine Tasse Tee zu trinken und dem Streit der Nachbarn zu lauschen. Vielleicht
hätte er sich mit seinen Kumpels von der Akademie treffen sollen - heute ist
ihr Jahrestreffen. Aber die werden sicherlich über ihre Kinder und kürzlich
absolvierte Auslandsreisen reden und über Beförderungen - das sind so die
Insiderthemen, von denen er noch nichts versteht.
    Bald, vielleicht schon in sechs Monaten, wird er von
seinem Spezialeinsatz zurück sein und dann an anspruchsvolleren Aufgaben
arbeiten. Vielleicht an der Beziehung zu einer treuen Freundin? Sie wird
freundlich und geduldig sein und hübsch, aber auf eine stille, unaufdringliche
Art. Eine Ärztin? Nein, die hätte Schichtdienst oder wäre abends unterwegs zu
Hausbesuchen. Er will, dass
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