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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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mehr zusammengeschrumpft; da er aber sitzt und sie
sich gegen den Tisch lehnt, befinden sie sich auf Augenhöhe, und sie muss sich
nicht mit dem Just do It. '-Aufdruck
auf seinem Nike-Sweater unterhalten. Auch dies gehört zu ihren kleinen Tricks,
mit denen sie dem Alter trotzt.
    Was für eine Frau! Taras ist so begeistert von ihrem
Einfallsreichtum, dass er fast ihre Frage überhört: »Und wie steht's mit
deinem Forschungsprojekt? Du hast großes Glück, dass du in Moskau arbeitest, Tarasik.«
    Niemand weiß etwas von seinem Kurs an der FSB-Akademie am Rande
Moskaus, obwohl er hier zwei lange Monate verbracht hat. Niemand weiß etwas von
seiner Tätigkeit im FSB-Archiv. Sara Samoilowna erkundigt sich nach seiner
Arbeit als Forscher am Institut für Geschichte und Archivwesen, dem berühmten
azurblauen Gebäude in der Nähe des Roten Platzes. Dort arbeitet er angeblich,
gemäß seiner Legende. Er hat diese Frage erwartet und hält eine Antwort parat -
aber Sara plaudert eifrig weiter, als sei sie richtig ausgehungert nach Worten.
Sie ist kurzatmig, schnappt immer wieder keuchend nach Luft und stößt abgehackt
hervor: »Sag mal, hast du eine richtige Freundin? Aber wahrscheinlich arbeitest
du genauso hart wie immer und bist zu beschäftigt dafür. Außerdem sind die
Moskauer Mädchen ja ziemlich anspruchsvoll. Wenn die mit jemandem gehen, lassen
sie ihm keine freie Minute mehr - glaub mir, ich weiß, wovon ich rede! Ach,
könnte ich doch mit dir nach Moskau gehen, zurück in meine Kindheit! Die Stadt
muss sich ja unglaublich verändert haben. Wahrscheinlich würde ich meine
Straßen gar nicht mehr wiedererkennen. Ich erinnere mich ja noch an alles:
Pappeln, Teiche ... Mein Gedächtnis ist immer noch gut, manchmal zu gut. In
meiner Vergangenheit gibt es so viele Dinge, die ich gern vergessen würde. Mein
Gott, wie haben sich die Zeiten geändert! Wenn mir jemand vor fünfzehn - nein,
zehn - Jahren gesagt hätte, dass die Erklärung der ukrainischen Unabhängigkeit
friedlich vonstatten gehen würde - kein Blutbad, keine Verhaftungen auf offener
Straße -, ich hätte ihn ausgelacht, Tarasik. Ich hätte ihm gesagt, er soll ...
na ja. Ich kann mich kaum noch an Flüche aus meiner Haftzeit erinnern, aber ich
erinnere mich noch gut an den August 1968, die Sowjetpanzer in Prag. Erinnerst
du dich übrigens an jene Artikel über die Kosaken, für die mein Mann verhaftet
wurde, nach dem Krieg? Diese Artikel, die als >nationalistisch<
bezeichnet wurden? Ich hab sie dir mal gezeigt, weißt du noch? Nun, es gibt
noch eine letzte überraschende Wendung in dieser Geschichte. Ich bekam einen
Anruf vom Herausgeber einer seriösen überregionalen Zeitschrift, der mich um
Erlaubnis fragte, ob er diese Artikel im Rahmen der Feiern zum zehnten
Jahrestag der Unabhängigkeit veröffentlichen dürfe! Und er will eine
öffentliche Lesung organisieren! Wer hätte je gedacht, dass das einmal
passieren würde?«
    Wieder wird der welke Körper von einem Hustenanfall
geschüttelt. Taras betrachtet sie besorgt. Sie schürzt die Lippen zu einem
runden O, man hört ein knacksendes Geräusch, bevor sie wieder keuchend Luft
holt. Der Hustenanfall bricht so unvermittelt ab, wie er begonnen hat, und Sara
Samoilowna lächelt Taras an. »Apropos Erinnerungen: Bei deinem Anruf hast du
das Museum im Institut erwähnt, nicht wahr?«
    Taras strahlt sie an. »Genau. Das Institut hat
beschlossen, seine besten Studenten zu ehren, und ich habe den Auftrag bekommen,
einen speziellen Raum für die Gedenkfeier zu entwerfen. Ihr Mann war dort in
den dreißiger Jahren Student. Wir planen extra einen Stand für ihn, um an seine
Arbeit zu erinnern. Das Institut besitzt eine Sammlung seiner Publikationen
seit 1947, aber leider wissen wir gar nichts über sein Leben und seine
Forschungsarbeit während des Kriegs. Vielleicht haben Sie ein paar Dokumente,
Bücher oder Briefe, die uns helfen könnten?«
    Er klingt enthusiastisch und zuversichtlich. Das war der
richtige Ansatz. Die Erinnerung an ihren Mann ist ihr einziger Besitz, und sie
ist ein freigebiger Mensch. Sie möchte die ganze Welt an diesem Besitz
teilhaben lassen. Sara Samoilowna dreht sich auf dem Absatz um, erstaunlich
flink für ihr Alter, und zieht eine Schreibtischschublade auf. Sie entnimmt
ihr zwei verblasste gelbe Dreiecke, ein dünnes Taschenbuch mit Stoffeinband,
auf rauem, grauem, billigem Papier gedruckt, und ein Notizbuch mit schwarzem
Wachstucheinband. Diese Dinge gibt sie Taras: »Schau sie dir an,
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