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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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ändern und das politische Gleichgewicht
in Europa verschieben könnte, und er sprach auch davon, wie wichtig es nun sei,
ein starkes, vereintes, demokratisches Land aufzubauen.
    Nur ein einziges Mal hat er kurz innegehalten, als ihn der
Moderator fragte: »Und wie ist die Botschaft in den Besitz dieser Dokumente
gelangt?«
    Er hat der Kamera zugezwinkert (nicht dem Moderator), sich
ein Lächeln verkniffen und gesagt: »Nun ja, diese ganze Geschichte war über
Jahrhunderte hinweg von einer geheimnisvollen Aura umgeben, und die Art und
Weise, wie das Beweismaterial nun entdeckt wurde, trägt weiter zu dieser
geheimnisvollen Aura bei. Für die Bewohner der westlichen Provinzen Kanadas ist
es recht teuer, zu den Konsulaten in Ottawa oder Toronto zu gelangen. Deshalb
kommt unser Konsul jeden Monat für einige Tage nach Edmonton, um Pässe
auszustellen und Visa zu bearbeiten. Letzten Monat wurde während eines solchen
Besuchs ein Päckchen in den Briefkasten des Konsulats in Edmonton eingeworfen.
Es enthielt ein Begleitschreiben mit einer kurzen Schilderung der Suche nach
den Kosakenschätzen im 20. Jahrhundert. Außerdem behauptet die betreffende
Person, sie sei im Besitz der Geburtsurkunde einer Nachfahrin, und gibt
Hinweise, wo man den Rest der Dokumente finden könne. Obwohl das Päckchen bei
Nacht eingeworfen wurde, hielt die Überwachungskamera die Silhouette eines
Teenagers fest, der eine Kapuze aufhatte und wegrannte. Wir konnten das Gesicht
nicht erkennen, aber die Person hinkte stark.« Der Botschafter sah erneut
direkt in die Kamera und sagte zu den Zuschauern, also zu mir: »Wir möchten die
betreffende Person, die diese Informationen zur Verfügung gestellt hat,
dringend bitten, sich zu melden. Das würde uns bei unseren Nachforschungen gewaltig
helfen.«
    »Was meinst du?«, frage ich meine Madonna. »Soll ich? Ich
habe denen detaillierte Anweisungen erteilt, wo sie hingehen und nachschauen
sollten, aber soll ich mich da wirklich einmischen? Soll ich es für die
grauhaarige Frau tun, mit den müden Augen und hohen Wangenknochen, die mich von
dem Foto auf der Kommode herab anlächelt? Für den Mann, der in einem Restaurant
in Argentinien mit seinen langen Fingern meine Hand berührt hat? Für das Land,
das sich im Zentrum Europas versteckt, das Land, das die Politiker immer
wieder wie eine Trumpfkarte aus dem Ärmel ziehen, so wie dies schon seit
Jahrhunderten geschieht, im ewigen Spiel von Macht und Gier?
    Weder fürchte ich die Demütigung, falls das Geld nicht da
sein sollte, noch fürchte ich all die juristischen »Bedingungen« und
»Vorausetzungen«, falls Anspruch auf das Erbe besteht. Schließlich hat die
Welt ein Recht darauf, dies zu erfahren, und ich auch. Immerhin stünde im Guinness-Buch
der Rekorde dann nächstes Jahr ein aktualisierter Eintrag.
    Ich sag dir aber, was ich
fürchte. Ich weiß, wenn ich jetzt weitermache, muss ich meine Kapuze abnehmen.
Und zwar nicht nur vor den Überwachungskameras der Botschaft.
    Ich muss die ganze Geschichte erzählen. Angefangen beim
Kühlraum in Cambridge mit den fluoreszierenden Fliesen, bei meinem
Alkoholkater damals am Tag nach Philips Party und bei der Konferenz, die an
jenem Tag stattfand. Oder vielleicht bei meiner ersten Kindheitserinnerung, Babusyas Weihnachtsmahl
... »Also«, frage ich die Madonna und schau ihr direkt in ihre mandelförmigen
Augen. »Soll ich?«
    Ich warte auf ein unmerkliches Nicken, ein Zeichen,
Mondlichtflecken auf ihrem Gesicht. Doch sie sieht mich nicht mehr an. Ihr
Blick schweift über meinen Kopf hinweg in die warmen, behaglichen Tiefen des
kleinen Schlafzimmers hinüber, aus dem es leise knurrt und grollt.
    Proby hört mich reden und kommt, um nach mir zu sehen. Er
steht in der Mitte des Zimmers, schaut mir ins Gesicht, und sein Fell leuchtet
silbrig im Mondlicht. Ich sehe ihn an und denke: Was für ein Trio - eine
Zombiefrau, ein Geisterhund und ein Wolfsjunges! Er tappt in die Küche zurück,
immer noch ratlos, warum ich so aufrecht dasitze, so reglos.
    Es ist fast Mitternacht, als ich Babusyas Gebet
spreche.
    Die Worte kullern aus meinem Mund wie glänzende Murmeln, mit
einem klaren, langen Nachhall.
    Das Gebet ist rein und schlicht wie eine C-Dur-Tonleiter.
Jeder Ton neu. Jeder Ton vertraut. Vielleicht war dies einst in einer alten,
verschollenen Sprache ein magisches, unsterbliches Wort, das lautet:
»Harmonie«, »Anfang und Ende«, »der Fluss des Lebens«. Ich wiederhole es
langsam, vorsichtig, als hätte ich die
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