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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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Flüstern verkümmert sind.
    Doch wenn man Edmonton verlässt und den Highway 16 nimmt -
den Yellowhead - und in östlicher Richtung durch die Städte und Dörfer von
Central Alberta fährt, ist das Ukrainische kein Flüstern mehr. Sondern lautes
Gebrüll: Das weltgrößte ukrainische Osterei (pisanka) in
Vegreville! Die ukrainische Riesenwurst (kowbasa) in
Mundare! Das 20000 Quadratmeter umfassende Kalyna
Country Ecomuseum, das Ukrainian Cultural Heritage Village! Autofahren ist das
Einzige, was mir hier nicht gefällt. Nicht nur, weil ich jedes Mal, wenn ich
aufs Gaspedal trete, die Metallplatte in meinem linken Bein spüre. Ich muss
mich jedes Mal überwinden, wenn ich die Wagentür öffne, immer noch. Ich weiß,
dass ich das Lenkrad fester umklammere als nötig. Und dass meine übertriebene
Konzentration beim Fahren zwangsläufig zu Kopfschmerzen führt. Aber das macht
nichts. Ich habe nämlich entdeckt, dass physischer Schmerz stark ablenken
kann.
    Man hat mir gesagt, es sei ein klassischer Unfall gewesen.
Ungewöhnlich war nur, dass es keine Zeugen gab. In einer Sackgasse in Tooting
fand die Polizei einen zertrümmerten Kleinwagen, der gegen eine Mauer geprallt
war. Man überprüfte das Kennzeichen - der Wagen war am selben Morgen vom
Parkplatz einer Seniorenwohnanlage gestohlen worden; er gehörte einem alten
Mann, der den Diebstahl etwa eine Stunde vor dem Unfall gemeldet hatte. Der
Lastwagen aus Osteuropa wurde allerdings nie gefunden - was angesichts seiner
Größe erstaunlich ist. Das Erste, woran ich mich nach dem Aufwachen erinnerte,
war der ekelhaft süße Geruch. Und ein Meer von Blumen. Blumen und Karten - von
ehemaligen Kommilitonen, deren Geburtstag ich vergessen habe, von ehemaligen
Mitschülern, die ich schon lange von meiner Weihnachtspostliste gestrichen
hatte. Sogar ein Früchtekorb von Carol stand im Zimmer, mit einer knappen
Notiz: Gute Besserung, Kate. Auch an
Gesichter kann ich mich erinnern. Abwechselnd, mit Unterbrechungen - die
sorgenvoll gerunzelte Stirn meines Vaters; das Kratzen der Bartstoppeln meines
Bruders auf meiner Wange; die sonnengebräunten Wangenknochen meiner Mutter;
Marina, die sich über mich beugt. Und irgendwie die ständige Gegenwart meiner
Großmutter. Seltsam, an Philip kann ich mich nicht erinnern, obwohl man mir
sagte, dass er täglich vorbeikam. Naja, beinahe täglich, während meines ersten
Monats im Krankenhaus, wenn er nicht gerade eine Präsentation vorbereiten
musste oder etwas anderes auf dem Programm stand - ein Meeting mit Klienten,
eine Golfrunde mit Geschäftspartnern.
     
    Es mussten so viele Knochen fixiert werden, dass der
Chirurg mich um Erlaubnis bat, seinen Studenten meinen Fall zu schildern. Meine
Krankenakte las sich wie ein Auszug aus einem Handbuch der klinischen Medizin:
    Eine instabile Fraktur des zweiten Halswirbelknochens als
Folge des stumpfen Traumas. Erfordert Stabilisation mit Halskrausen und externen
Fixiervorrichtungen. (Das passierte, als ich mit dem
Kopf gegen die Windschutzscheibe knallte.)
    Trümmerfraktur des Femurs, die die Stabilisierung der Knochen
durch einen Metallstab erforderlich macht (das ist
mein Oberschenkelknochen, der zerschmettert wurde, als die Motorhaube
zerknautschte und die Wucht des Aufpralls meine Beine traf.)
    3) Milzriss
    4) Tibia-Fraktur
     
    Es wäre zu anstrengend, die ganze Liste aufzuzählen. Der
Klinikaufenthalt war noch nicht das schlimmste. Ich war ja die halbe Zeit bewusstlos.
Weiß Gott, was für Schmerzmittel die mir gegeben haben.
    Die Zeit nach der Entlassung war die schlimmste. Mit dem
Laufgestell in die Küche gehen; lernen, dass man sich jemandem, der etwas
sagt, mit dem ganzen Körper zuwenden muss. Immer dieser metallische Geschmack
im Mund, noch Monate später, als ich mich in die Welt hinauswagte, Straßen
überquerte, mich hinter den Rücken und Taschen anderer Passanten versteckte.
Philips Fragen ausweichen, auf die ich keine Antworten wusste. Philip war klug
genug, den ersten Schritt zu tun und mich zu verlassen. Vor fünf Jahren kam ich
dann zu einer Konferenz hierher. Es ging um »Alternative Konfliktlösungen«.
Eigentlich konnte ich gar keine echten Alternativen anbieten, aber es war eine
ideale Gelegenheit, aus der Kanzlei und von Carol wegzukommen. Dann entdeckte
ich den Aushang vor dem Büro des Dekans. Man erweitere
die Fakultät und habe vor, angesichts der wirtschaftlichen
Globalisierung und der Internationalisierung des Anwaltberufs internationale
Mitarbeiter zu gewinnen.
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