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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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Ich habe mich sofort beworben. Rasch bekam ich eine
Arbeitserlaubnis und eine Liste mit den Adressen seriöser Umzugsfirmen und
Immobilienmakler - und nun lebe ich hier in einer Zwei-Zimmer-Mietwohnung in
Edmonton.
    Mein Apartment befindet sich in der Whyte Avenue - nicht
die ruhigste Gegend, aber günstig gelegen: in der Nähe des Flusstals und der
Busstation zur Universität. Und Proby hat viel Auslauf. Die wichtigste Regel,
wenn man eine dunkle Straße entlanggeht und einer Horde betrunkener Jugendlicher
begegnet, lautet bekanntlich: auf die andere Straßenseite gehen und mit
gesenktem Kopf rasch weiterlaufen. Wahrt man einen Sicherheitsabstand, passiert
nichts. Und genau das habe ich hier befolgt, den Kopf gesenkt und in der
Erinnerung gelebt, Gelächter und Wut aus der Ferne beobachtet, den Schmerz
betäubt, indem ich mit Proby am Fluss entlanghinkte. Bis letztes Jahr.
    Da ist dieser Junge. Ich kann nicht erklären, was ich am
meisten an ihm liebe. Vielleicht die Art, wie er meine Hand hält: Erst klopft
er mit den Fingerspitzen auf mein Handgelenk, dann schiebt er rasch seine Hand
in meine. Das passt wie der Deckel auf ein viktorianisches Federkästchen. Oder
sein schrilles, heiseres Gekicher, wenn Proby ihm morgens mit seiner Sandpapierzunge
die Wange abschleckt.
    Ich hatte nicht vorgehabt, ihn bei mir aufzunehmen. Es hat
sich einfach so ergeben - letzten Sommer, als ich mich ehrenamtlich im
Ukrainian Cultural Heritage Village engagierte. Das ist ein großes
Open-Air-Museum, an die dreißig Gebäude, und alle, die hier beschäftigt sind,
nehmen ihre Rollen sehr ernst. Man muss gehen, reden, sich benehmen wie die
ersten ukrainischen Siedler Anfang des 20. Jahrhunderts. Mir fällt es nicht
schwer, zu schauspielern.
    Jetzt, da ich hier lebe, schlüpfe ich sowieso jeden Tag in
eine andere Rolle. Im August bietet das Ukrainian Cultural Heritage Village ein
Sommerferienlager für Kinder an. Sie führen das Leben von Kindern an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert und sind begeistert. Sie kochen, verbringen den
Tag in einer Einraumschule, vergnügen sich mit historischen Spielen.
    Als die Koordinatorin dieser Sommercamps mich einmal
fragte: »Lieben Sie Kinder?«, hätte ich fast geantwortet: »Ich weiß nicht«,
aber sie kam mir zuvor. »Sie werden alle Liebe brauchen, die Sie in sich haben
- dieses Jahr kommt eine Gruppe ukrainischer Waisen, gesponsert von einer
Privatorganisation.«
    Und sie kamen, zehn stille, verängstigte, fügsame Kinder
aus derselben ukrainischen Gemeinde, mit schüchternem Blick, gedämpften
Bewegungen. Sie baten nie um etwas, aßen alles, was man ihnen vorsetzte,
gehorchten aufs Wort, klammerten sich an die Erwachsenen, und in all ihren
Gesichtern stand die gleiche Frage: »Machen wir es richtig? Damit Sie uns nicht
bestrafen oder früher zurückschicken ?«
    Und dann war da noch ein elftes Kind - ein Junge namens
Wowtschik, was sehr, sehr gut zu ihm passt. Der Name ist eine
Verkleinerungsform von »Wladimir«, bedeutet aber auch »Wolfsjunges«. Und genau
das ist er: durchdringender Blick, scharfe Gesichtszüge, immer bereit zu
kämpfen, zuzubeißen. Weder Mitläufer noch Zerstörer - vorwiegend Beobachter.
Keine Ahnung, warum er sich zu mir hingezogen fühlte. Vielleicht, weil ich die
erste Erwachsene war, die ihn nicht ändern oder beherrschen wollte. Oder
vielleicht spürte seine kleine Seele intuitiv, dass wir beide uns einen
Schutzmechanismus aufgebaut haben - er durch die latente Aggressivität, die in
jeder seiner Bewegungen liegt, ich durch höfliche Distanz.
    Wenn ich nach dem Abendessen durch das Ferienlager ging,
tauchte er plötzlich aus der Dämmerung auf. Dann drückte er mir einen Kuss auf
die Hand und umschloss sie mit seinen trockenen, heißen Händen; oder er umarmte
mich rasch und rannte weg, ohne sich umzusehen, ohne eine Reaktion abzuwarten -
vielleicht hatte er zu viel Angst, es könnte gar keine Reaktion geben. Nie zuvor
hat mir jemand so offen seine Liebe gezeigt, nie zuvor habe ich eine so
seltsame Freundschaft erlebt. Ich habe ihn vermisst, als die Gruppe zurückflog,
aber das war es dann auch. Bis Dezember. Tanja, die Koordinatorin der Stiftung,
schickte mir eine Weihnachtskarte mit seiner Zeichnung: zwei Gestalten -
verschieden groß, ansonsten identisch -, die sich an der Hand halten. Bleistiftdünne
Körper, die Gesichter jeweils ein Kreis mit exakten Strichen für Augen und
Haare und einem übertrieben großen Mund, eine lächelnde Kurve von einem Ohr
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