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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K.
Autoren: Ein fatales Erbe
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Tag mit leerem Magen rumzulaufen.
    Soll ich Wera in einem Brief von den Neuigkeiten
berichten? 12. Juni 1942
    Habe jetzt lange Zeit nicht geschrieben. Heute hat die Prawda einen
Vertrag zwischen der Sowjetunion und Großbritannien abgedruckt, der das
gemeinsame Vorgehen der Alliierten nach Kriegsende regelt. Der Vertrag wird
zwanzig Jahre gültig sein. Er bedeutet, dass mein Sohn oder meine Tochter eine
friedliche Kindheit und Jugend haben wird, anders als meine Generation: Wir
mussten stets mit einem Krieg rechnen. Wer weiß, in zwanzig Jahren sind
vielleicht alle Kriege längst Geschichte geworden. Warum konnte das nicht
dreiundzwanzig Jahre früher geschehen?
     
    5. Juli 1942
    Es ist ein Mädchen! Ich habe Sara gestern Nacht ins
Krankenhaus gebracht, obwohl wir beide dachten, es sei vielleicht noch zu
früh. Als ich sie heute Morgen besuchen wollte, teilte mir die Schwester mit,
dass meine Tochter um 6.30 Uhr geboren wurde. Mutter und Kind seien wohlauf.
Sara hat mir einen kurzen Zettel geschrieben, dem man entnehmen kann, was sie
durchgemacht hat. Normalerweise hat sie eine schöne Handschrift, aber jetzt, da
sie so schwach und erschöpft ist, kann man sie kaum entziffern. Sie hat um ein
gekochtes Ei gebeten, das ist ihr einziger Wunsch. Ich hab den Markt nach Eiern
abgesucht, konnte aber keine finden. Ich war sogar bereit, meine Schuhe gegen
ein Ei zu tauschen, aber ... nichts! In was für eine Welt ist meine Tochter
hineingeboren worden! Wenn sie das hier überlebt, wird sie bestimmt hundert
Jahre alt.
    Ich bin so froh, dass ich eine Tochter habe! Mädchen sind
sensiblere, feinfühligere Wesen als Jungen, und in diesen schweren Zeiten ist
eine zusätzliche Portion Liebe und Zärtlichkeit ein besonderer Luxus.
     
    5. August 1942
    Heute ist es einen Monat her, dass meine Tochter zur Welt
kam. Natascha ist sichtlich gewachsen; ihre Augen haben die Farbe verändert und
sind klarer geworden. Sie ist sehr dünn; ihre Schulterblätter stehen vor wie
zwei gefaltete Engelsflügelchen.
    Ihre Mutter hat Krieg und Frieden gelesen,
bevor sie in die Klinik kam, und hat beschlossen, unsere Tochter nach Tolstois
Heldin zu nennen. Ich hatte keine Einwände - sie sieht aus wie ihre Mutter, und
Sara ist immer noch so spontan und arglos, wie Natascha Rostowa es war. Sie
ist gerade in unserer Kantine zum Mittagessen (es gibt fade Gerstensuppe, um genau
zu sein), und das Baby ist bei mir. Natascha schläft auf zwei zusammengeschobenen
Stühlen, statt einer Matratze hab ich Archivakten mit meiner alten, löchrigen
Strickjacke bedeckt.
    Bisher besteht die Erziehung meiner Tochter einzig und
allein darin, sie an die Not zu gewöhnen, in der auch ihre Eltern leben
müssen. Verzeihen Sie mir, Robert Owen! Die winzige Natascha ernährt uns
bereits; ihre Kinderlebensmittelkarte verschafft unserer Familie mehr Brot.
Erstaunlich.
     
    1. September 1942
    Heute ist der erste Tag der Uni-Vorlesungen. Da Natascha
Fieber hat, konnte Sara sie nicht in den Kindergarten bringen und hat den
ganzen Vormittag geweint. Sie ist erst neunzehn, und ein Jahr Familienleben,
ein Jahr Krieg, hat ihr bisher nicht viel Glück beschert. Ich soll ihr Kraft
und Vertrauen geben, aber das ist nicht leicht. Seit zwei Monaten lauten die
Bulletins im Radio immer nur: »Lage an der Front unverändert ...«
    Ich schäme mich, aber im Moment konzentriert sich meine
Zukunftshoffnung auf eine Zeit, in der wir uns endlich einmal alle satt essen
können!
    Kostja, mein alter Freund aus Studientagen, hielt sich
eine Woche lang in Taschkent auf und kam uns besuchen. Seine Familie lebt in
Kasachstan, in einem Kuhstall nahe dem kleinen Bahnhof Tschelkar. Außer
getrocknetem Kamelfleisch und Reis haben sie nichts zu essen. Im Winter dringt
die Kälte ungehindert durch die Mauern des Kuhstalls. Ich soll ihnen behilflich
sein, hierher zu ziehen - hoffentlich wird dieser Winter wärmer. Wir sprachen
von unseren Freunden. Mischa und Valentin sind an der Front gefallen, beide,
nur drei Monate nachdem man sie eingezogen hatte. Der Krieg kommt Tag für Tag
näher. Kostja hat nichts von Wera gehört, und ich habe ihr meine Neuigkeiten
immer noch nicht geschrieben.
     
    Kaffeeduft weht ins Zimmer, gefolgt von Sara Samoilowna,
die eine weiße Keramiktasse voll amorpher brauner Flecken hereinträgt. Sie
stellt die Tasse auf den Schreibtisch, schiebt sie vom Rand weg. Die Tasse
hinterlässt eine nasse Spur auf dem glänzenden Tisch. Sie ist nur halb voll,
aber Sara Samoilowna ist mit ihren
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