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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Autoren: Nicholas Meyer
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unerwartete Erwiderung.
    »Ich habe noch nie davon gehört, daß Freud Landkarten zeichnet.«
    »Und ich versichere Ihnen, daß er genau das getan hat, obwohl sie vielleicht nicht in jeder Hinsicht zuverlässig sind.«
    »Holmes, Sie verblüffen mich. Wie kann eine Landkarte irgendeinen Wert besitzen, wenn sie nicht völlig genau ist?«
    »Ganz im Gegenteil.« Er hielt inne, zündete sich seine Pfeife an und zog energisch daran, um sie in Gang zu bringen. »Die Tatsache, daß Freuds Landkarten möglicherweise in die Irre gehen, macht ihre Bedeutung nicht hinfällig. Der passende Vergleich für Dr. Freud ist Kolumbus. Erinnert sich heute irgend jemand daran, oder kümmert man sich noch darum, daß Kolumbus glaubte, in Indien gelandet zu sein? In dieser Hinsicht waren Kolumbus’ Karten geradezu abenteuerlich ungenau. Das erscheint im Rückblick jedoch weniger wichtig als die Tatsache, daß Kolumbus der erste weiße Mann war, der seinen Fuß auf einen bis dahin unerkundeten Kontinent gesetzt hatte, von dessen bloßer Existenz die große Mehrheit der Menschheit nichts ahnte. Kolumbus ist ganz zu Recht berühmt, und niemand macht sich die Mühe, darüber nachzudenken, daß seine Landkarte vollkommen falsch war.«
    »Und welche Landkarte hat Sigmund Freud gezeichnet? Auf welchen unerkundeten Kontinent hat er seinen Fuß gesetzt?«
    »Auf den Kontinent des sogenannten Unbewußten. Er ist der erste Wissenschaftler, der die Existenz dieses Unbewußten gefolgert und schließlich bestätigt hat. Wenn seine Karten dieser terra incognita vielleicht auch ein wenig verschwommen sind, so müssen Sir mir mein Versäumnis nachsehen, wenn ich mich darüber nicht besonders erregen kann. In Anbetracht seiner eigentlichen Entdeckung werden Sie die Bedeutungslosigkeit seiner kleinen Irrtümer ohne weiteres einsehen.«
    Mit diesem und einer großen Anzahl ähnlicher Beispiele bewies Holmes, daß er zwar in einem Zustand lebte, den er als Ruhestand zu bezeichnen beliebte, daß seine Sinne jedoch so scharf waren wie eh und je. Es war in der zweiten Woche meiner Ferien, daß er mir einen weiteren kleinen Einblick in seine Intelligenz gestattete, eine Intelligenz, die es nie verfehlte, mich zu erstaunen und zu entzücken.
    »Sie haben recht, Watson, es ist tatsächlich unfaßbar«, bemerkte er eines Abends gänzlich aus heiterem Himmel. Ich hatte ihm die ganze Zeit stumm gegenüber gesessen und ins Feuer gestarrt.
    »Was ist unfaßbar?«
    »Der Untergang der Titanic . Sie brauchen kein so erstauntes Gesicht zu machen, mein lieber Freund. Ich sah, daß Sie voller Verwirrung das Flaggschiff der Cunarder-Reederei auf dem Rauchfang betrachtet haben. Dann haben Sie Ihre Augen von dem Schiff abgewandt und weiter Ihre Times gelesen, die zweifelsohne neue Spekulationen bezüglich der Tragödie enthält. Schließlich haben Sie geseufzt und es dem Feuer gestattet, Ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Danach war es nicht weiter schwierig, Ihre melancholischen Gedanken zu folgern.«
    Ich gestand, daß er sie völlig richtig gefolgert hatte. Es war tatsächlich unfaßbar für mich, daß so etwas passieren konnte.
    »Es war wirklich eine überaus vage Vermutung«, pflichtete Holmes mir bei. »Der arme Architekt konnte kaum wissen, welche Konsequenzen sein Entwurf mit sich bringen würde.«
    »Worauf wollen Sie hinaus?«
    »Eine höchst unwahrscheinliche Kette von Ereignissen, Watson. Der Rumpf der Titanic war, wie allenthalben bekannt ist, in wasserdichte Kammern unterteilt.«
    »Eine Tatsache, die die Zeitungen immer wieder betont haben.«
    »Und dennoch gingen diese Kammern nicht über das Deck E hinaus, das heißt kaum über die Wasserlinie des Schiffes. Es sieht so aus, als habe es Mr. Andrews aus ästhetischen Erwägungen heraus widerstrebt, das Konzept der wasserdichten Schotten weiterzuführen. Er wollte seine großen Gesellschafträume einfach nicht auseinanderreißen.«
    »Und was hat das mit der Tragödie zu tun?«
    »Als das unglückselige Schiff auf den Eisberg auflief, wurde es vom Schiffsbug her entlang der Steuerbordseite völlig aufgeschlitzt. Das Wasser strömte hinein und zog es vorne herunter. Während der Bug sich immer weiter ins Meer senkte, war es unvermeidlich, daß das Wasser über die Oberfläche der ersten wasserdichten Kammer in die zweite floß, von dort in die nächste und von dort wiederum in die nächste. Das Schiff muß beinahe senkrecht im Ozean versunken sein.«
    »Was für eine entsetzliche Sache. Also wirklich, woher wußten
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