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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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denken.«
    Das war es also. Welche Gründe sie auch haben mochte, mich für das Gegenteil zu halten, ich wollte es nicht mehr wissen. Plötzlich fand ich sie nur noch armselig in ihrer Raffiniertheit, und um zu verhindern, dass ihr Gift mir die letzte Stunde im Park vergällte, wiederholte ich mir immer wieder jenen Vers der Desdemona: »Verhüte Gott, dass unser Glück nicht sollte wachsen wie unserer Tage Zahl!« Ich flüsterte ihn ganz nah vor dem Spiegel und betastete dabei die Flecken an meinem Hals. Zarte Jungs können ganz schön heftig sein.
    »Ich gehe übrigens morgen zum Friseur«, rief ich schließlich und tupfte mir etwas Creme ins Gesicht. »Kommst du mit? Der Salon nebenan sieht passabel aus. Die Preisliste auch. Ich werde mir die Zotteln kurz schneiden lassen, richtig kurz.«
    Ein Bus fuhr vorbei, die Läden an den Fenstern klapperten, und Dinah runzelte die Brauen und bewegte die Lippen, als wiederholte sie das Gesagte. Wenn sie außer dem Alkohol, den sie täglich trank, auch noch Schlafpillen nahm, reagierte sie deutlich langsamer als sonst, fast benommen. »Du wirst was? Wieso willst du das tun?«
    Sie schniefte, ihre Augen schwammen in Tränen. Sie war verrückt nach meinen Haaren, und ich zuckte mit den Achseln und bemühte mich, nicht schnippisch zu klingen; aber wahrscheinlich tat ich es doch. »Keine Ahnung. Ich möchte leichter werden.«
    Lange sagte sie nichts. Sie kratzte den klaren Lack von ihren Nägeln und starrte die Wand an, die groß geblümte Tapete, und auch ich stand eine Weile regungslos vor dem Spiegel, der das dämmrige Zimmer hinter mir verzerrte und sie viel weiter entfernt aussehen ließ. Unten in der Rezeption klingelte das Telefon. Dann johlten Betrunkene vor dem Haus, und endlich schüttelte sie den Kopf, entfaltete ein frisches Taschentuch und fragte leise: »Du liebst mich nicht, oder?«
    Ich atmete tief, riss mir die Bürste durchs Haar und schloss die Augen. Schweiß brach mir aus, und mein Puls schlug im Hals. Es ist ja nicht dieser oder jener Zustand, der das Leben oder sein Geheimnis ausmacht; es sind die Übergänge, die leisen Übergänge, wie in der Musik. Manchmal denke ich, sogar der Tod ist nur ein Akkordwechsel. »Doch«, sagte ich. »Du bist meine Freundin, und ich mag dich, Dinah. Ich liebe dich wirklich. Aber nicht so, wie du es dir wünschst. Das geht nicht. Das kann ich einfach nicht.«
    Das Gemecker von Ziegen kam von irgendwoher. Der Silberteller über dem Eingang, dieses Zunftzeichen, schaukelte im Wind. Der Mistral hatte den Asphalt, die parkenden Wagen und das Obst des Händlers nebenan mit einem rötlichen Staub bedeckt, Wüstenstaub, der aus der Sahara über das Mittelmeer geweht wird, so der Reiseführer. Doch der Himmel war klar, und die Friseuse legte den Föhn ins Regal und lockerte alles noch einmal mit den Fingern auf. Auch sie schien zufrieden zu sein. »Komisch«, sagte sie, »manche Frauen sehen viel weiblicher aus mit kurzen Haaren.«
    Vor allem aber wirkte ich jünger als vorher, wie eine freche Sechzehnjährige. Besonders der Seitenscheitel gefiel mir. Papa würde das wahrscheinlich Bubikopf nennen oder Charleston-Frisur, egal. Mit der Wolle auf den Schultern war ich mir oft ein wenig gedrungen vorgekommen, manchmal fast füllig, doch jetzt stimmten die Proportionen. Die Luft im Nacken war angenehm kühl, und ich strahlte vor Glück und drehte mich nach Dinah um, die gerade wieder den Laden betrat. »Na?«, sagte ich. »Erkennst du mich noch?«
    Sie stieß ein wenig Atem durch die Nase und lächelte matt, das heißt, sie verzog einen Lippenwinkel und schloss einmal kurz die Lider. Dann hielt sie mir den Hotelschlüssel hin. Sie trug Jeans und meine weiße Bluse, die mit den langen Kragenspitzen, und sah mich nicht direkt an. In den Spiegel blickte sie, und obwohl ich alles sofort begriff und bis ins Mark erstarrte, war ich doch auch froh und erleichtert, als wäre uns im letzten Moment das Richtige geglückt. Als könnte es einen stimmigen Schluss geben.
    Die Friseuse, die Besen und Kehrblech aus einem Wandschrank nahm, wartete in taktvoller Distanz. Ich rührte mich nicht unter dem Umhang, atmete kaum. Tränen tropften mir vom Kinn, kullerten über das Nylongewebe, und meine Stimme war mir plötzlich fremd. »In Ordnung«, sagte ich und musste schlucken. »Aber wir sehen uns in Berlin, oder?«
    Dinah machte noch einen Schritt, trat auf die Haare, die um den Stuhl herum lagen, und warf den Schlüssel neben den Föhn. Der Anhänger
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