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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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Marseille. Als ich den Arm hob, johlten und winkten seine Kameraden aus den offenen Fenstern heraus, und einige machten obszöne Gesten. Doch er stand fast bewegungslos und sah mich an mit diesem Blick, in dem ich so etwas wie Dankbarkeit las, zärtliche, und auch ein Versprechen, und das war der schönste Gruß. Langsam schlenderte ich in die Innenstadt zurück, rauchte eine Zigarette und roch gelegentlich an meinen Fingern.
    Als ich ins Hotel kam, lag Dinah schon im Bett und hielt die Augen geschlossen. Aber natürlich schlief sie nicht, sie lauerte. Wir wollten am nächsten Tag nach Montélimar fahren und dann vielleicht in die Berge, und ich duschte, schnitt mir die Nägel und packte ein paar Sachen. Ich war viel zu glücklich, um irgendwem böse zu sein, hatte Lust auf Zuckerwatte. Aber der Gedanke, gleich neben Dinah liegen zu müssen, war trotzdem schlimm, denn ich wollte nicht die Aussprache, die in der Luft lag, ich hasse Aussprachen. Versteht sich das meiste im Leben nicht von selbst?
    Ich ließ Wasser in das Becken und wusch noch ein paar Slips. Mama sagt immer, ich sei konfliktscheu, als wäre das ein Leiden. Doch ich bin nicht konfliktscheu, ich kann mich schon fetzen. Bloß weiß ich selten, wozu das gut sein soll; die Welt ist schließlich groß genug, um sich aus dem Weg zu gehen. Alles ist morgen mit Sicherheit von gestern, und es reicht völlig, einfach nur da zu sein und sich nach der Schönheit umzusehen, dem Licht und der Poesie, oder?
    Als wir damals den »Othello« probten, hatte ich mir ein paar Bücher über die Elisabethanische Epoche und ihr Theater ausgeliehen, und in einer dieser Abhandlungen stand, dass es in der modernen Zeit und ihrer blutleeren Dramenliteratur keine Helden mehr gebe, ganz anders als beim großen Shakespeare zum Beispiel. Es war eine ziemlich steif geschriebene Schwarte aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg, und statt »Helden« stand da meistens »Hünen« – ein Wort, das mir bis dahin kaum untergekommen war. Deswegen las ich immer »Hühner« und kapierte erst mal nichts.
    Doch nach einem Blick in den Duden fand ich, dass meine Schusseligkeit auch ihre Logik hatte, denn angesichts der Sorgen und Nöte seiner Gestalten, die ihre finsteren Schicksale wie riesige Kreuze mit sich herumschleppen, sind wir eigentlich nur Hühner, oder? Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld – und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.
    Am liebsten hätte ich mich auf den Wannenrand gesetzt und Gitarre gespielt, aber die lag zu Hause, und so summte ich einen alten Blues und wusch noch ein Paar Sachen von Dinah mit. Sie hatte die Nachttischlampe angeknipst und sich beide Kissen in den Rücken gestopft. Ihre Lider waren geschwollen, die Wangen von zerlaufener Tusche verschmiert, und sie trank etwas Wasser aus einem Glas, in dem es einen weißlichen Bodensatz gab. Und plötzlich tat sie mir auch wieder leid, und ich fragte mich, was mit mir los war; nie kann mal etwas zweifelsfrei sein.
    Ich hängte die Socken über den kalten Heizkörper und kramte meine Bürste aus dem Kulturbeutel, in dem auch die Kondome lagen, die ich vorhin so lange gesucht hatte. Da räusperte sie sich und sagte mit einer Stimme, als wäre sie total verschnupft: »Fritzi? Ich weiß, ich geh dir auf die Nerven, aber darf ich dich was fragen?« Ihr Kinn war ganz kraus, und die Unterlippe zitterte. »Glaubst du eigentlich, du bist ein guter Mensch?«
    Keine Ahnung, wie sie jetzt darauf kam; doch ich hab ja auch nie behauptet, besonders helle zu sein. Ich fühlte nur, dass sie kurz davor war, bösartig zu werden, und zupfte ein paar Haare aus den Borsten. Dabei musste ich an ihr permanentes Klauen denken und die Antwort auf meine Frage, ob sie kein schlechtes Gefühl dabei habe: »Nö, wieso denn«, hatte sie gesagt. »Nicht, solange Preisschilder an den Sachen hängen.« Und ihr Vater weiß nicht, wohin mit dem Geld.
    »Ob ich mich was?« Echt Wildschwein stand auf der Bürste. »Sicher halte ich mich für einen guten Menschen«, sagte ich kühl, auch wenn das nur bedingt stimmte; aber ich wollte ihr Paroli bieten. »Wer tut das nicht?«
    Schon ihr Schweigen sollte irgendwas bedeuten; im Nachhinein kam es mir wie ein Ausholen vor. Und dann putzte sie sich die Nase und sagte halblaut in das Taschentuch hinein: »Nun ja ... Ein guter Mensch, würde ich
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