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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja
Autoren: Zülfü Livanelli
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eine Stunde brauchen. Nun ja, ich hätte auch wie Wagner damals in der Nähe der Uni wohnen können, aber in diesen Vierteln ließ sich nicht mehr leben.
    Ich dachte daran, dass Kerem bestimmt schon zu Hause war und vor dem Computer hockte. Ich musste ihm etwas zu essen machen. Ob wohl noch irgendetwas Fertiges daheim war? Ganzegal, was ich ihm vorsetzte, er würde es nicht am Esstisch einnehmen, sondern ich würde es ihm in sein Zimmer bringen müssen, wo er weder mich noch das Essen eines Blickes würdigen, sondern alles in sich hineinstopfen würde, ohne nur einen Moment lang den Blick vom Computerbildschirm zu wenden. Mit der Tastatur waren seine Hände so gut wie verwachsen. Nur zum Schlafen bewegte er sich von seinem Computer noch weg.
    Sollte ich Süleyman bitten, mich nach Hause zu fahren? Aber ohne Gegenleistung tat der ja nichts für einen. Bei allem und jedem fragte er immer nur nach seinem Vorteil. Intelligent war er nicht, aber gerissen.
    Intelligenz und Gerissenheit stehen wahrscheinlich im umgekehrten Verhältnis zueinander. Und etwas Gerissenes hatte bei diesem Süleyman auch schon die Art an sich, wie er den Mercedes durch den Verkehr lenkte und die Wagen, die sich auf den Standstreifen gewagt hatten, mit der Hupe verscheuchte.
    Irgendwann fiel mir auf, dass uns ein weißer Renault folgte, der von der Straßenpolizei dennoch nicht angehalten wurde. Stundenlang im Stau steckende Autofahrer warfen uns wütende Blicke zu.
    »Ist in Boston der Verkehr auch so?«, fragte ich.
    »Nein«, erwiderte er sanft, aus seiner Versunkenheit erwachend. »Gott sei Dank nicht, denn wir haben dort nicht solche Privilegien.«
    »Aber in New York muss der Verkehr doch ähnlich sein?«
    »Manchmal schon, aber doch nicht so schlimm. Wo kommen hier bloß die ganzen Autos her? Zu meiner Zeit sah man hin und wieder mal eins. Die Leute fuhren mit der Trambahn und mit dem Stadtdampfer.«
    »Es gab ja auch die Brücken noch nicht.«
    »Die Galata-Brücke? Doch, die war schon da.«
    »Nein, die Brücken über den Bosporus meine ich, von Europa nach Asien.«
    »Ach so, ja. Damals kam man nur mit den Dampfern und mit kleinen Booten hinüber.«
    Irgendwann konnte ich meine Neugier nicht mehr zügeln.
    »Sind Sie Deutscher oder ein deutschstämmiger Amerikaner?«
    Da verzog er das Gesicht. Er murmelte etwas, von dem ich aber nichts verstand.
    »Verzeihen Sie bitte«, sagte ich. »Es ist nur, weil Sie in Amerika unterrichten, aber einen deutschen Namen tragen, da dachte ich …«
    »Schon gut«, beschwichtigte er, »Sie können ja nichts dafür, es liegt an mir. Wenn es um Identität geht, bin ich nun mal etwas empfindlich. Also, ich bin Deutscher, aber …«
    »Nein, nein, lassen Sie nur, ich wollte Sie damit nicht belästigen, entschuldigen Sie bitte.«
    Er lächelte wohlwollend.
    »Durch eine so harmlose Frage soll keine Verstimmung zwischen uns aufkommen. Entschuldigen Sie bitte meine seltsame Reaktion. Ja, ich bin Deutscher, aus Bayern, aber seit 1942 lebe ich in den USA und habe auch die amerikanische Staatsangehörigkeit angenommen. Seit 1939 bin ich nie mehr in Deutschland gewesen.«
    »Obwohl es Ihr Vaterland ist.«
    »Diesen Begriff vermeide ich.«
    Mit verschlossener Miene wandte er das Gesicht etwas ab. Das Gespräch war für ihn beendet. Ein geheimnisvoller Mann.
    Als wir von der Autobahn in Richtung Beyoğlu abfuhren, blieb uns der weiße Renault auf den Fersen. Ich phantasiere gern, denn nur so erscheint mir das Leben erträglich, und so stellte ich mir augenblicklich vor, unser Professor sei ein Spion, der von irgendeinem Geheimdienst verfolgt würde. Gleich würden sie uns den Weg abschneiden, den Professor aus dem Auto ziehen und entführen und mich gefesselt in einen Kerker werfen. Nur dieser bauernschlaue Süleyman, der würde natürlich davonkommen. Oder sowieso zu den anderen gehören.
    Mir Geschichten auszudenken, hatte ich mir angewöhnt, als ich Literatur studierte und mich auch ansonsten recht intensiv mit Literatur beschäftigte. Mit der Zeit aber ließ das nach. Im Hinblick auf einen eigenen Roman befasste ich mich eine Weilemit Schreibtechniken, und irgendwie kühlte durch dieses methodische Vorgehen mein Verhältnis zur Literatur eher ab.
    Oder aber, profaner noch, aus dem Roman war deswegen nichts geworden, weil bei meinem Leben aus mir nun mal keine Schriftstellerin werden konnte. In den vor Gemeinplätzen nur so strotzenden Büchern über »Persönlichkeitsentwicklung« wird einem immer vorgegaukelt,
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