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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja
Autoren: Zülfü Livanelli
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Cellophan gehüllten alten Notenblätter aus der Tasche und überreichte sie ihm.
    Ungläubig sah er sie an, als hielte er ein Wunder in Händen. Aus seinem linken Auge rann eine Träne, eine einzige. Krächzend summte er die Melodie vor sich hin. Dann sah er mich mit dankbaren Blicken an.
    »Das ist ein Wunder, Maya. Wo haben Sie die Noten gefunden?«
    Ich erzählte ihm alles und holte dann die Fotos heraus.
    Da kam eine Krankenschwester herein. Der Professor müsse sich nun unbedingt ausruhen, doch könne ich am nächsten Tag wiederkommen. Bevor ich reagieren konnte, sagte Maximilian:»Bitte! Lassen Sie die Frau hier. Sie hat mir wichtige Dinge mitgebracht. Ich bitte Sie inständig, lassen Sie uns allein.«
    Das war in so überzeugendem Ton vorgetragen, dass die Krankenschwester widerspruchslos das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Maximilian vertiefte sich in die Bilder. Ich ging zum Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel.
    In der Fensterscheibe spiegelte sich das Zimmer wieder, so dass ich Maximilian unbemerkt beobachten konnte. Er drückte das Foto Nadjas an die Brust und blieb so liegen. Dann murmelte er etwas auf Deutsch. Schließlich dankte er mir.
    »Das ist aber noch nicht alles«, erwiderte ich. »Ich habe noch etwas.«
    »Was denn?«, fragte er.
    »Ich muss Ihnen etwas zeigen, auch wenn es Sie betrüben wird. Es soll für Sie eine Art Besuch an Nadjas Grab sein.«
    Ich holte den Laptop aus der Tasche, positionierte ihn so, dass Maximilian den Bildschirm gut sehen konnte, und ließ die DVD anlaufen. Gebannt starrte Maximilian auf das Wrack.
    In der Tiefe des Schwarzen Meeres beleuchteten die Lampen der Taucher die Seitenwand des Schiffes, das Deck, die Masten. An dem verrosteten Eisen hingen allerlei Meeresgetier und Algen. Als die Kamera ins Innere der Struma schwenkte, mutmaßte man unwillkürlich, wo genau Nadja wohl herumgegangen war, wo sie gesessen und Briefe geschrieben hatte.
    Es war wie ein Gang durch einen Friedhof, einen Friedhof am Grunde des Meeres. Zerbrochene Gerätschaften lagen herum, doch als die Taucher die Hände danach ausstreckten, wurde Sand aufgewirbelt, der alles verhüllte. Maximilian und mir war sehr seltsam zumute. Während man ein irdenes Grab nicht betreten konnte, waren wir soeben in ein Seegrab eingedrungen.
    Nach sechzig Jahren sah Maximilian zum ersten Mal wieder die Masten, die Reling, die Kapitänskajüte, nach denen er damals vom Ufer aus so sehnsüchtig hinübergeblickt hatte. Viele kleine und auch größere Fische schwammen dazwischen herum. Es war noch alles da an dem Schiff, außer den Menschen.
    Als die DVD zu Ende war, schwiegen wir beide und wusstennicht, was wir tun sollten. Ich klappte den Laptop zu und räumte ihn in die Tasche. Maximilian schien mich gar nicht mehr wahrzunehmen und starrte nur auf einen Punkt an der Wand. Auf einmal kam ich mir ganz überflüssig vor, als hätte ich mich zwischen Maximilian und Nadja gedrängt und sie daran gehindert, miteinander alleine zu sein. So nahm ich Mantel und Tasche und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.
    Auf dem Weg ins Hotel packten mich Zweifel. Hatte ich vielleicht etwas Falsches getan? War ich von Istanbul bis Boston geflogen, nur um bei einem sterbenden Mann alte Wunden aufzureißen? Gönnte ich ihm etwa nicht, friedlich zu entschlafen? Mich reute immer mehr, was ich da getan hatte. Wie grob und gedankenlos ich gegenüber dem alten Mann doch gewesen war.
    Es war eisig kalt, als ich vor dem Hotel aus dem Taxi stieg. Ich bekam ein ungemütliches kleines, aber sauberes Zimmer und nahm als Erstes ein heißes Bad, das meine Lebensgeister wieder weckte. Meine innere Unruhe wurde ich nicht los. Tiefbetrübt legte ich mich ins Bett, und da mich auch der Jetlag plagte und mich alle Stunden wieder wach werden ließ, griff ich schließlich doch wieder zu dem Medikament.
    Am nächsten Morgen rief ich im Krankenhaus an und bat die Stationsschwester, sie solle den Professor fragen, ob er mich sehen wolle. Sie erklärte, dass Maximilian wegen einer Behandlung kaum in der Lage sei, jemanden zu empfangen. Sie werde mich am nächsten Tag anrufen und Bescheid sagen, wie es ihm gehe.
    So hatte ich einen ganzen Tag vor mir, den ich irgendwie totschlagen musste. Ich war ungeheuer unzufrieden mit mir. Zuerst versuchte ich es mit einem Spaziergang, aber es blies ein so schneidender Wind, dass ich draußen kaum atmen konnte. Also stieg ich in ein Taxi, um zur Harvard University zu fahren.
    So trieb ich mich
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