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Serafinas später Sieg

Serafinas später Sieg

Titel: Serafinas später Sieg
Autoren: Judith Lennox
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war ihr nicht wichtig, sie interessierte sich nur für Angelo, der vor ihr herritt. Die Sonne verlieh seinem Haar einen goldenen Schimmer, die Locken wippten im Rhythmus der Hufschläge auf und ab. Serafina zeigte sich gern mit Angelo – um so mehr, seit sie bemerkt hatte, wie die anderen Mädchen ihn ansahen.
    Nach einer Weile hielten sie an, und Angelo half Serafina von ihrem Muli. Vor ihnen lagen Marseille und das Blau des Mittelmeeres, hinter ihnen die Berge und das alte Räubernest Les Baux. Serafina hatte es sich einmal angesehen, doch sie wollte nie mehr dorthin, denn dort gab es Geister, die Geister derjenigen, die von den hohen Festungsmauern in den Tod gestürzt worden waren. Grausamkeit als Zeitvertreib – die Erkenntnis einer solchen Möglichkeit hatte sie nächtelang wachgehalten.
    Angelo breitete seinen Mantel auf dem Boden aus. Serafina setzte sich hin, zog die Knie an, stützte das Kinn darauf und beobachtete die Schmetterlinge, die fast reglos in der warmen Luft schwebten. Verstohlen musterte sie Angelo. Die Schatten der Ölbaumblätter sprenkelten sein glattrasiertes Gesicht mit dem schöngeschwungenen Mund, der klassischen Nase und dem Grübchen im Kinn. Er trug ein dunkelblaues Wams und ein ebensolches Beinkleid, und auch seine Kleidung wurde von dem zitternden Laub mit tanzenden Mustern versehen. Damals war Serafinas Lieblingsgeschichte die von Aucassin und Nicolette. In ihrer Phantasie ersetzte sie Aucassin durch Angelo: Goldbraune Locken fielen weich bis auf seine Schultern, und sein Lächeln versicherte ihr, daß er mit niemandem auf der Welt so gerne zusammen war wie mit ihr. Und während sie verträumt Rosmarinzweige abpflückte, wünschte sie sich inständig, daß die Zeit stehenbliebe.
    Plötzlich riß Angelo sie aus ihren Träumereien: »Wie wird es dir gefallen, eine verheiratete Frau zu sein, Serafina?«
    Sie hatte Michele Corsini bereits wieder vergessen gehabt. »Es wird mir bestimmt sehr gefallen«, antwortete sie leichthin und rollte sich auf den Bauch. »Aber ich werde erst in vielen Jahren heiraten. Ich fahre im Frühling nur zu meiner Verlobung nach Italien.« Das bloße Aussprechen des Wortes »Italien« bereitete ihr Genuß. Ihr Vater besuchte das Land seiner Väter häufig, doch sie war noch nie dort gewesen.
    »Eine Verlobung ist ebenso bindend wie eine Heirat«, bemerkte Angelo, der Gräser um die Rosmarinzweige wickelte, die Serafina ihm gegeben hatte. »Du darfst dann nur noch deinen Verlobten lieben.«
    Serafina starrte ihn an. Lieben? Liebe kam in Märchen und Balladen vor. Warum sollte sie Michele Corsini lieben, der ein alter Mann war – und ein Fremder für sie? Sie sprach die Frage aus, und Angelo grinste. Seine Zähne leuchteten strahlend weiß in dem dunklen Gesicht.
    »Warum heiratest du, wenn nicht wegen der Liebe, Serafina?«
    Sie war neun Jahre alt und verstand nicht, was er meinte, sie wußte lediglich, daß es etwas gab, was vor ihr geheimgehalten wurde, etwas Wichtiges, über das nur die Erwachsenen miteinander sprachen. Sie versuchte, ihre Unwissenheit mit Arroganz zu überspielen. »Ich heirate, geschätzter Kusin, weil Michele Corsini einen guten Namen hat.«
    Angelo lächelte noch immer. Er stand auf, ließ den Kranz, den er geflochten hatte, auf Serafinas Kopf fallen und entfernte sich ein paar Schritte. Erschrocken sprang Serafina auf, lief ihm nach, griff nach seiner Hand und flüsterte: »Bitte sei mein Freund, Angelo. Bitte!« In ihrer Stimme zitterten Tränen.
    Angelo wandte sich ihr zu, rückte den Kranz auf ihren Haaren zurecht, doch gleich darauf kehrte sein Blick zu den winzigen, Inseln vor der Küste und zu den weißen Wellenkämmen zurück, die ans Ufer schäumten. »Ich werde immer dein Freund sein, Serafina«, sagte er leise. »Was sollte ich auch sonst sein?« Dann hob er ihre Hand, die immer noch in der seinen lag, an die Lippen, beugte sich herunter und streifte mit seinem Mund flüchtig den ihren. Seine dunklen Augen strahlten, und sie hörte die Vögel nicht mehr zwitschern: Ihre Lieder wurden durch das Hämmern von Serafinas Herz übertönt.
    Die laue Brise frischte auf, und der Bann war gebrochen. Serafina erkannte, daß die vermeintlichen Schmetterlinge, die in der Luft tanzten, in Wahrheit trockene Blätter waren – Vorboten des nahenden Winters.
    Nach diesem Nachmittag beschloß Serafina, ihrer Unwissenheit ein Ende zu setzen. Als sie am Abend mit Marthe zusammensaß und ihr Verlobungskleid mit winzigen silbernen Stichen
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