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Sepia

Sepia

Titel: Sepia
Autoren: Helga Schuetz
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sterbenden Priesters Laokoon, des sterbenden Vaters, beachtet. Erikas Skizze hatte bereits bestens angedeutet, was das Foto für sie nun noch deutlicher zeigt: Der Vater packt mit letztem Sinn und letzter Kraft die nach dem Leben des älteren Sohnes trachtende Schlange und lenkt so das giftige Maul des irritierten Tieres auf seine Hüfte, auf seinen schon bezwungenen, schon hinsinkenden Körper. Geistesgegenwart in weißgrauem Marmor.
    Eli schließt die Augen. Sie steckt das Foto in ihre Tasche, aber nur in Gedanken, denn sie weiß ja, dass es zu nichts mehr führt und ganz deutlich zu spät ist, sie weiß, dass ihre Mappe mit dem Laokoon-Text bereits mit einer Nummer versehen in der Stalin-Haus-Bibliothek im Archivkeller abgelegt worden ist.
    Höchstens Kunert könnte sie an ihrem Finderglück teilhaben lassen. Sie könnte sich bei ihm bedanken für die Anregung, das Pergamonmuseum sei immer noch ihr liebster Ort, sie könnte ihm von dem Foto mit dem richtigen Arm erzählen und gleich auch, dass sie von einem gewissen Professor Salzmann, Aufsicht im Pergamonmuseum, zum ersten Mal den Namen Sadoleto gehört habe, Jacopo Sadoleto, Kardinal und Zeitgenosse Michelangelos, der habe ein Gedicht hinterlassen, das noch einmal das ganze Geschehen und die ganze Sprachlosigkeit zur Sprache bringe.
De Laocoontis statua
. Ein Hymnus.
    Eli weiß, dass Kunert inzwischen ein anderes Fach unterrichtet, statt Kunstgeschichte nun Deutscher Stummfilm. Die Hochschulreform nimmt ihren Lauf. Eli weiß, dass zurzeit alle Abteilungen umgekrempelt werden, sie weiß auch, dass unterdes schon wieder Eignungsgespräche stattfinden.
    Kunert könnte nur nicken. Eli würde ihn mit ihren alten Sachen belästigen, er müsste fragen: Und wo ist der Bezug zu unserem aktuellen Programm?
    Programm?
    Schneider gestaltet für das dritte Semester ein neues Antike-Seminar – eins ohne Lust auf Rom und so weiter. Laokoon fällt wahrscheinlich raus.
    Ja geht denn das?
    Kunert, der damit nichts mehr zu tun hat, würde ärgerlich oder gleichgültig die Achseln zucken. Warum denn nicht?
     
    Sadoleto war ein junger Mann, also längst noch nicht zum Kardinal berufen, als die Ausgrabung der antiken Skulpturengruppe in Rom Furore machte, wahrscheinlich hatte er sofort losgelegt mit dem Dichten, damals, im Februar, März, April, den Monaten des Frühlings, denn im Mai 1506, noch bevor der Fund im Vatikan öffentlich ausgestellt werden konnte, war das Gedicht, das jene überraschende Wiederkunft feiert, nicht nur fertig, sondern bereits in Lettern gesetzt, also gedruckt. Grausam von Schlangen getötet Vater und Söhne. Man las, es sei aber nur Marmor, der atmet und weint – nur harter Stein –, jedoch in lebenswahrer Gestalt. Sechzig Zeilen Worttrost zum tröstenden Marmorwerk.
    Eli könnte Frau Felber bitten, die zusätzlichen Seiten, das Gedicht und die Sadoleto-Biographie (1477–1547), in die archivierte Mappe zu legen, zu schmuggeln, um ehrlich zu sein. Mit dem Hinweis, Achtung, der Arm des Vaters damals verloren, das Manöver der Schlange nicht nachzuvollziehen, dieRettung eines Sohnes, sein Davonkommen, damals wahrscheinlich nicht denkbar.
    Professor Salzmann, unser Zuckerstück, hatte das Gedicht aus dem Renaissancelateinischen übersetzt und danach in Prosa versucht, einen Sinn zu finden.
     
    Die Garderobenfrau bewahrt die Bücher und Mappen in einem aus Bast geflochtenen Korb. Solange die Sachen gebraucht werden, sind sie bei mir unter dem Tresen gut aufgehoben. Sie komme jetzt auch eine Bahn früher, um unserem Zuckerstück behilflich zu sein.
    Sie nimmt seinen Mantel entgegen, die Handschuhe. Es macht ihr nichts aus, es beflügelt.
     
    Salzmann oder Zuckerstück will nicht begreifen, wie sich Rafaela bis jetzt durch das Leben mogeln konnte, ohne Kenntnisse in Latein. Er sagt es ihr an diesem Morgen auf seine feine, aber direkte Art über den Kantinentisch hin, wo die Sadoleto-Verse ausgebreitet liegen.
    Rafaela, Sie schwimmen, Sie sollten nun laufen lernen.
    Er fischt aus der Tiefe ein Wörterbuch. Das ist für Sie, Rafaela. Ohne Latein kann man nicht wirklich existieren.
    Acer campestre, der Feldahorn, sagt Eli.
    Salzmann lächelt nachsichtig. Immerhin schon ein Anfang.
    Eli dankt gerührt und auch etwas beschämt. Ich will mich bemühen.
    Das Nächste muss schnell gehen. Ohne Umschweife. Salzmann klopft seine Papiere auf dem Kantinentisch zu einem sauberen Bündel. Es ist kurz vor Dienstbeginn. Man hört den Personalruf, das Klingelzeichen im
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