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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann
Autoren: Clausia Puhlfürst
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jetzt, diese Knochen wiederzufinden, damit sie noch einmal untersucht werden können.« Die Reporterin hielt kurz inne und holte tief Luft. Hinter ihr kam Bewegung in das Bild. Ein blau-gelb gestreiftes Auto mit der Aufschrift Police rollte vor das Gebäude. Ein Mann mit neongelber Weste und Schirmmütze stieg aus, gefolgt von einem dunkel gekleideten Herrn. Beide verschwanden in dem weißen Zelt.
    Die Journalistin erklärte unterdessen weiter. »Inzwischen haben sich mehr als achtzig ehemalige Insassen bei der Polizei gemeldet, unter ihnen auch Zeugen, die inzwischen im Ausland leben. Sie alle berichteten von systematischem Missbrauch im Haut de la Garenne .«
    Matthias Hase spürte sein Herz pochen. Es hämmerte mit weit über hundert Schlägen und er überlegte, ob es womöglich schlappmachen würde. Ehemalige Insassen. Der Begriff schnürte ihm die Kehle zu. Er war selbst in so einer Einrichtung gewesen. Seine Erinnerung war verschwommen, aber er musste damals ungefähr acht Jahre gewesen sein. Seine kleine Schwester Mandy war zu dem Zeitpunkt erst vier gewesen. Jahrelanger Aufenthalt in einem Kinderheim prägte das ganze weitere Leben. Er war wie gelähmt. Seine Kaumuskeln schmerzten.
    Nun wurde ein grobkörniges vergilbtes Foto, auf dem ungefähr vierzig Jungen in drei Bankreihen saßen, gezeigt. Am hinteren Rand stand ein Mann mit schwarzem Anzug und weißem Hemdkragen. Das Gesicht des Lehrers war ein verwaschener
grauer Fleck, und doch vermeinte Matthias, die Bösartigkeit darin zu erkennen.
    »Das Kinderheim Haut de la Garenne wurde 1867 als Schule für ›junge Menschen der unteren Klassen und vernachlässigte Kinder‹ gegründet. Zu Beginn besuchten nur Jungen die Institution. Sie waren zwischen sechs und fünfzehn Jahren alt. Erst ab dem Jahr 1959 nahm man auch Mädchen auf…«
     
    Jungen, Mädchen, vernachlässigte Kinder. Matthias schüttelte den Kopf und öffnete die Augen, die er, ohne es zu merken, geschlossen hatte. Das Boulevardmagazin hatte sich inzwischen anderen Themen zugewendet. Mühsam erhob er sich und tappte wie ein alter Mann in die Küche. Das Mineralwasser schmeckte nach Blut. Seine Unterlippe schmerzte. Er leckte mit der Zunge darüber und spürte an der Innenseite eine wunde Stelle. Was war in diesem Kinderheim auf Jersey geschehen? Und warum wühlte ihn das bis ins Innerste auf? Was war in seinem Kinderheim vor dreißig Jahren geschehen? Wo zum Teufel waren eigentlich alle seine Erinnerungen an diese Zeit?
    Die Wasserflasche unter den Arm geklemmt, marschierte er ins Arbeitszimmer. Vielleicht würde eine Internetrecherche seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
    Hastig tippten die Finger Kinderheim + »Ernst Thälmann« in die Suchmaschine. Fast 4000 Einträge erschienen. Es gab Einrichtungen mit dem Namen des Arbeiterführers in Dessau, Eisenhüttenstadt, Kyritz, Flöha, Pillnitz, Eilenburg und noch in vielen weiteren Städten. Zu einigen existierten sogar Foren und Weblogs. Es folgten Kinderheime in Ernst-Thälmann-Straßen und Heime, die in anderer Form mit dem Namen verknüpft waren.
    Nur zu dem Kinderheim, in dem er und Mandy gewesen waren, fand sich nichts als zwei uralte Zeitungsmeldungen von der Schließung 1989. Keine »Ehemaligen-Seiten«, keine Foren.

    Matthias betrachtete abwesend das Etikett der Wasserflasche. War das ungewöhnlich oder nicht? Da er nicht wusste, wie viele Heime mit dem Namen »Ernst Thälmann« es gegeben hatte, fiel es ihm schwer, das zu entscheiden. Sein Blick wanderte zu der Holzschatulle, in der er seine wenigen persönlichen Erinnerungen aufbewahrte. Er musste sie nicht öffnen, um zu wissen, was darin war: ein paar kleinformatige Fotos, Notizen, Briefe, eine Haarspange seiner Schwester Mandy.
    Die Jahre im Heim waren ihm in der Erinnerung immer so nichtssagend wie die Schwarz-Weiß-Bilder in dem Kästchen erschienen, ein ewig gleicher Reigen von Schule, Hausaufgabenbetreuung, schlechtem Essen und mürrischen Erziehern. Was also hatte ihn vorhin an diesem Bericht über das Haut de la Garenne dann so aufgewühlt? Erinnerte ihn irgendein unwichtiges Detail der Berichterstattung an etwas? Er brauchte detaillierte Informationen, dann würde es ihm vielleicht wieder einfallen. Wie von selbst huschten die Finger über die Tastatur.
    Schon seit Jahren hatte es im idyllischen St. Martins auf Jersey Gerüchte über Vorfälle in dem Kinderheim Haut de la Garenne gegeben. Die Gerüchte blieben jedoch immer ohne Folgen, bis im Jahre 2006 eine verdeckte
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