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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal
Autoren: Christian Mähr
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haben diesen Glauben nicht nach schweren inneren Kämpfen, sondern frisch, fromm, fröhlich, frei. Für die ist die Sache gegessen, sobald Jesus am Horizont auftaucht: Ach, da ist Jesus! Jetzt kann ich die Krücken gleich wegschmeißen ... Hallo! He, Jesus! Ja, hier drüben, tschuldige, hast du mal ne Minute, ich hab da dieses Problem mit meinem Bein ... sie bitten ihn um Heilung, wie sie einen Bekannten um Feuer bitten, von dem sie wissen, dass er starker Raucher ist und immer ein Feuerzeug bei sich hat. Es gibt keinen Zweifel. Verstehen Sie?«
    »So zu glauben – das kann ich nicht«, sagte Semmler mit leiser Stimme. »Nicht einmal annähernd so.«
    »Das ist sehr schade. Denn genau von diesem Glauben würde es gar nicht viel brauchen! Mathäus 17, Vers 20: ›So ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so mögt ihr sagen zu diesem Berge: hebe dich von hinnen dorthin! So wird er sich heben und euch wird nichts unmöglich sein.‹ Das ist schon eine starke Ansage!«
    »Ja, aber aus der Formulierung wird doch auch klar, dassdieser Glaube in der realen Welt nicht existieren kann. Wer hat jemals einen Berg versetzt? Ich habe von diesem Glauben nicht für ein Senfkorn ...«
    »... nicht einmal ein Milligramm, nicht ein Mikrogramm, nicht ein einzelnes Atom davon«, unterbrach ihn der Pfarrer. »Ich weiß, ich weiß. Aber dieser Glaube existiert sehr wohl in der Welt, das darf ich Ihnen versichern ...«
    »Mag sein. Ich hab ihn nicht. Gibt’s eine Alternative?«
    Der Pfarrer schwieg lang und musterte Semmler. Der stand auf. »Ich hab schon verstanden. Bemühen Sie sich nicht weiter. Danke für den Vortrag. War interessant ...« Er wandte sich zum Gehen.
    »Warten Sie! Noch sind wir nicht fertig. Setzen Sie sich.« Semmler nahm wieder Platz. Er tat es gern, denn beim Aufstehen hatte sich das Bein mit scharfem Schmerz gemeldet, ein Strahl von oben bis unten. Der Pfarrer stand nun vor ihm, ganz nah, aber seine Figur war im Dunkel der Kirche nur ein schwarzer Umriss, ein verschwimmender Schatten. Der Schmerz im Bein ließ nach, als er wieder auf der Bank saß, er spürte die Kälte, die von allen Seiten heran kroch. Natürlich, dachte er, darum heißt es ja Kaltfront. Er wunderte sich über diesen Gedanken. Es sollte in seiner Lage doch egal sein, ob es kalt oder warm war. Aber es war nicht egal. Das erfüllte ihn mit Staunen.
    »Ihr Fall ist nicht einzigartig. Wenn ich den Leuten nur Mathäus 17, 20 anbieten könnte, müsste ich den Laden zumachen. Glauben von dieser Art haben und hatten nur die Heiligen. Ihr Fall ist aber nicht so hoffnungslos, wie Sie jetzt meinen: Schon die Tatsache, dass Sie das Bitten überhaupt in Erwägung ziehen, dass Sie hier und jetzt mit mir dieses Gespräch führen, weist doch auf eine gewisse Glaubensbereitschafthin; vielleicht sollte man sagen: auf einen Protoglauben, eine Vorform ...«
    »... und das gibt schon Punkte?«
    »Ja, gewissermaßen gibt das schon Punkte!«
    »Was soll ich also tun?«
    »Steigen Sie aus!«
    »Wie ... aussteigen ... woraus aussteigen?«
    »Sie wollen doch aufhören mit der Dealerei, oder nicht?«
    »Ja, sicher ... ich will ... raus ...«
    »Raus ... das ist das Stichwort! Sie wollen aufhören. Dann sagen Sie es doch! Sagen Sie laut und deutlich: Ich widersage! «
    »Wem?«
    »Das müssen Sie nicht dazusagen, es ist unerheblich – Sie haben ja auch bei diesen Opfersprüchen keinen Adressaten genannt, oder?«
    »Nein ...«
    »Sehen Sie! Und es hat doch funktioniert, das kann man nicht bestreiten. Also wird auch dieses Mal zuhören, wen es angeht.«
    »Ich widersage – das ist alles?«
    »So ist es.«
    »Dann ist es vorbei?«
    »Dann sind sie raus – vorausgesetzt, Sie wollen es auch wirklich ...«
    »Natürlich will ich – oder gibt es da irgendwelche theologische Spitzfindigkeiten?«
    »Absolut nicht! Aber bei diesem Punkt machen sich die Menschen oft etwas vor. Behaupten, etwas zu wollen – und insgeheim wollen sie das Gegenteil. Sie müssen sich sicher sein über Ihre innersten Wünsche. Wenn Sie den Kontraktlösen, treten Sie wieder in die normale Welt hinaus, wo es Glück gibt und Unglück, Freude und Leid. Alles ist wieder auf Null gestellt, alle Chancen sind wieder da und alle Gefahren ...«
    »Das heißt, Ursula kann auch sterben ...«
    »Und gesund werden! Und Sie können sterben – noch in dieser Minute, ein kosmischer Hauch kann Sie hinwegraffen, eine Kleinigkeit – aber genau so können Sie ein gesegnetes Alter erreichen. Und Sie können Gott immer bitten
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