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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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Anisgeschmack des Ricard dominierte über die Aromen der anderen und gab dem Gebräu ein milchiges Aussehen. Du trankst es in einem Zug aus und legtest dich dann schlafen.
    Du hast die Terminkalender vergangener Jahre aufgehoben. Wenn du an deiner Existenz zweifeltest, nahmst du sie zur Hand. Im Durchblättern erlebtest du noch einmal deine Vergangenheit, als überflögst du eine Chronik deiner selbst. Manchmal fandst du Verabredungen wieder, an die du keinerlei Erinnerungen hattest, und Leute, deren Namen nichts in dir wachriefen, obwohl du sie selbst niedergeschrieben hattest. Die meisten Ereignisse allerdings kamen dir wieder in den Sinn. Doch es hat dich irritiert, dich an nichts mehr von dem zu erinnern, was zwischen den aufgezeichneten Dingen passiert war. Du hattest doch auch diese Momente erlebt. Wo waren sie hin?
    Du lehntest es ab, ergiebig zu sein. Du machtest wenig, aber das Wenige gut, und tatest lieber gar nichts, als etwas schlecht zu tun. Die Begierden deiner Zeitgenossen waren dir gleichgültig. Du wolltest nicht alles und das sofort. Es gefiel dir, dir selbst Verzicht aufzuerlegen: auf das Essen, das Trinken, das Rauchen, Sprechen, Ausgehen. Du konntest dich tagelang des Lichts berauben, glücklich in deinem Zimmer, mit zugezogenen Vorhängen. Die Luft hat dir nicht gefehlt. Die Stille hat dich beglückt. Diese Kargheit war dein Niveau.
    Das Theatrale war nicht deine Welt, doch der Tod, den du wähltest, erforderte Entscheidungen über den Ort, den Zeitpunkt und die Art und Weise. Um ihn herbeizuführen, warst du gezwungen, ihn zu inszenieren.
    Du hast dich endlosen Runden des Zweifelns hingegeben. In dieser Materie hieltst du dich für einen Experten. Aber das Zweifeln ermüdete dich derart, dass du letztlich Zweifel am Zweifeln selbst hegtest. Einmal habe ich dich am Ende eines Nachmittags gesehen, den du mit einsamen Grübeleien verbracht hattest. Du saßt reglos und versteinert da. Ein kilometerlanger Lauf durch einen tiefen Wald voll Schluchten und Fallen würde dich weniger erschöpft haben.
    Dein Selbstmord intensiviert das Leben derer, die dich überlebt haben. Wenn Überdruss sich bei ihnen breitmacht oder sie in einem grausamen Spiegel die Absurdität ihres Lebens aufblitzen sehen, mögen sie sich an dich erinnern, und ihre Verbitterung wird ihnen immer noch besser erscheinen als die Angst vor dem Nichtmehrsein. Sie werden wahrnehmen, was du nicht mehr siehst. Sie werden hören, was du nicht mehr vernimmst. Und was du nicht mehr besingst, werden sie anstimmen. Die Freude an den einfachen Dingen wächst im Licht der traurigen Erinnerung an dich. Du bist ein schwarzes, aber intensives Licht, das aus deiner Nacht heraus den Tag neu beleuchtet, den sie nicht mehr sahen.
    Einmal warst du mit Freunden in den Bergen Ski fahren. Am ersten Tag seid ihr zum höchsten Punkt eines Gletschers gefahren, den man von der Talstation aus hatte sehen können. Deine Freunde froren, und sie fuhren schnell wieder hinunter. Du hast allein in einer kleinen Mulde angehalten, um den frischen Schnee anzuschauen, der am Vorabend gefallen war. Die Sonne beschien ihn im Gegenlicht, während der Wind an seiner Oberfläche einen feinen Film aufstäubte. Felsen, Sträucher und Boden dieser kleinen Mulde waren von ein und demselben kalten Weiß überzogen. Es war die Nacht am Tag, das Negativ von Dunkelheit. Der Ort schien dir auf ideale Weise zu schlafen, hellwach und klar, wie in deinen besten Träumen.
    Die Trauermesse fand in der kleinen Kirche gegenüber dem Haus deiner Mutter statt. Ich bin nie in dieser Kirche gewesen außer zu diesem Anlass. Es war ein kleiner, grauer Bau am Straßenrand. Um hineinzugelangen, musste man einen kleinen Sandweg um die Kirche herum zur Hintertür nehmen. Es gab keinen Garten, nur einen Baum. Ich habe dich zu deinen Lebzeiten nie die Wörter »Messe« oder »Kirche« aussprechen hören. Nur zuweilen sprachst du von Gott, als handelte es sich um eine abstrakte Größe, ein Gesprächsthema oder ein Kuriosum, das anderen vorbehalten war. Es war eigenartig, einen Priester von dir sprechen zu hören, der dich nie kennengelernt hatte. Ihr lebtet zwar einander gegenüber, aber er war gerade erst in diese Gemeinde bestellt worden. Er hielt den Nachruf auf dich. Er sagte nichts Wahres und nichts Falsches. In seinem Mund warst du austauschbar. Obwohl er seine Predigt ohne konkreten Bezug vorbereitet hatte, schien er beim Reden bewegt, als spräche er von einem geliebten Wesen. Ich habe nicht an
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