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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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irische Freundin deiner Mutter zu Besuch. Sie sprach kein Französisch. Du hast dich ihr in perfektem Englisch zugewandt.
    Nur die Lebenden wirken widersinnig. Der Tod schließt die Reihe von Ereignissen ab, aus denen ihr Leben besteht. Also bleibt einem nichts übrig, als diesen eine Ordnung zu verleihen. Ihnen eine solche zu verweigern, würde bedeuten zu akzeptieren, dass ein Leben, und das heißt das Leben, absurd ist. Deines hatte noch nicht die Schlüssigkeit vollendeter Tatsachen erlangt. Dein Tod gab sie ihm.
    Einmal bist du auf deinem blauen Motorrad Richtung Meer aufgebrochen. Du bist mit 180 Stundenkilometern gefahren. Ein Auto hat dich geschnitten. Als du es wieder überholtest, zeigtest du ihm die Faust. Nachdem du dreißig Kilometer weiter die Autobahn verlassen hattest, überholte dich das Fahrzeug erneut und blockierte dir an einer Kreuzung den Weg. Du wusstest nicht, was der Fahrer im Sinn hatte; er ließ seinen Motor aufheulen, ohne zu starten. Zwei Männer auf den Hintersitzen schauten dich an und stachelten sich gegenseitig auf. Du bist von deinem Motorrad gestiegen und auf das Fahrzeug zugegangen. Sie sind losgefahren, bevor du sie erreichen konntest. Am Strand bist du ihnen zufällig wiederbegegnet. Als sie dich von Ferne sahen, glaubten sie, du habest sie verfolgt. Mit deinem schwarzen Helm auf dem Kopf bist du auf sie zugesteuert. Noch in Badehosen packten sie hastig ihre Sachen und hauten ab. Im Laufen drehten sie sich noch einmal nach dir um.
    In der Öffentlichkeit weckte deine schweigsame Art, andere zu beobachten, bei diesen ein Unwohlsein; du glichst einer atmenden Statue, die gleichgültig bleibt gegenüber der Hast, die sie enttarnt.
    Deine Entscheidung, die Welt auszulöschen, erspart den Überlebenden, es zu tun. Sie sehen, was du verpasst. Wenn sie daran denken, dass du nichts mehr bist, mögen sie selbst ihre Schmerzen.
    In der Kunst ist die Reduktion eine Vervollkommnung. Dein Verschwinden hat dich in einer Schönheit des Verzichts erstarren lassen.
    Im Haus deiner Mutter gab es einen alten Wachhund und träge, nutzlose Hauskatzen. Wir sagten immer wieder diesen Spruch: Gib einer Katze ein Leben lang zu fressen, sie verlässt dich am nächsten Tag; gib einem Hund einen Tag lang zu fressen, er bleibt dir ein Leben lang treu. Du warst die Katze, ich der Hund.
    Das Wenige, was du angepackt hast, ist dir gelungen.
    Das letzte Mal, als ich dich sah, trugst du ein weißes Baumwollhemd. Du standst mit deiner Frau in der Sonne auf dem Rasen vor dem Schloss, wo die Hochzeit meines Bruders stattfand. Die Feierlichkeit der Zeremonie kam dir nicht befremdlich vor. Ich dagegen fühlte mich all dem fern. Ich erkannte meine Familie in dieser mondänen Art der Zusammenkunft nicht wieder. Du schienst durch nichts irritiert, weder durch das bürgerliche Zeremoniell noch durch die Entscheidung meines Bruders, seine Liebe von Dritten gutheißen zu lassen, seien sie ihm auch noch so fern. Du hattest nicht diesen abwesenden, traurigen Blick, den du normalerweise in der Öffentlichkeit aufsetztest. Du lächeltest und schautest die vom Wein und der Sonne angeheiterten Leute an, die auf der großen Wiese zwischen der weißen Steinfassade und der zweihundertjährigen Zeder schwatzten. Nach deinem Tod habe ich mich oft gefragt, ob dieses letzte Lächeln, das ich an dir gesehen habe, eines der Belustigung war oder, ganz im Gegenteil, das Wohlwollen dessen, der weiß, dass er bald nicht mehr an den irdischen Freuden teilhaben wird. Du hast nicht bedauert, sie aufzugeben, aber du hattest auch nichts dagegen, sie noch zu genießen.
    Du hast nicht gezögert. Du hast das Gewehr präpariert. Du hast eine Patrone eingelegt. Du hast in deinen Mund gezielt. Du wusstest, dass ein Selbstmord mit einer Jagdflinte misslingen kann, wenn der Schütze auf Schläfe, Stirn oder Herz zielt, weil der Rückstoß den Lauf von seinem Ziel ablenkt. Wenn der Mund den Gewehrlauf fest umschließt, ist dieser Misserfolg selten. Wenn du deinen Selbstmord hättest ankündigen, das heißt ihn verfehlen wollen, hättest du eine sanftere Methode gewählt. Deine war gewaltsam, die Ausführung radikal. Du hast keine halben Dinge gemacht. Wenn du eine Entscheidung getroffen hattest, konnte nichts dich aufhalten. Dein Blick galt dann nicht mehr der Welt, die dich umgab, sondern nur noch dem angestrebten Ziel. Einmal ging der letzte Hund deiner Mutter auf einen anderen los, der etwa hundert Meter von ihm entfernt lief. Er riss sich los, stürmte
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