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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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notiert, was man dir erzählte. Vom Text, den du niederschriebst, warst du zweifach der Urheber.
    Dein Leben war eine Vermutung. Diejenigen, die alt sterben, sind ein Brocken Vergangenheit. Man denkt an sie und sieht, was sie waren. Man denkt an dich und sieht, was du hättest sein können. Du warst und bleibst ein Brocken Möglichkeiten.
    Dein Selbstmord war das Wichtigste, was du in deinem Leben gesagt hast, aber du wirst die Früchte davon nicht ernten.
    Bist du überhaupt tot, da ich doch zu dir spreche?
    Wenn du noch leben würdest, wären wir Freunde? Es gab andere, die mir näher waren. Aber die Zeit hat mich unmerklich von ihnen entfernt. Ein Anruf würde genügen, um alles wiederzubeleben. Doch keiner von uns riskiert die Enttäuschung eines Wiedersehens. Dein Schweigen ist Beredsamkeit geworden, während jene, die noch sprechen können, stumm bleiben. Ich denke nicht mehr an die, denen ich so nahe war. Du aber, damals so fern, distanziert und dunkel, strahlst jetzt in meiner Nähe. Wenn ich Zweifel habe, bitte ich dich um deine Meinung. Deine Antworten befriedigen mich mehr als die, welche die anderen mir geben könnten. Du begleitest mich treu, wo ich auch bin. Tatsächlich sind sie die Verschwundenen. Du bist der große Gegenwärtige.
    Du bist ein Buch, das zu mir spricht, wenn ich es wünsche. Dein Tod hat die Geschichte deines Lebens geschrieben.
    Du machst mich nicht traurig, sondern schwer. Du stehst meiner unverbesserlichen Leichtigkeit im Weg. Wenn ich zu sprunghaft bin und mir aus irgendeinem Grund dein Gesicht erscheint, gebe ich den Leuten um mich herum wieder Bedeutung. Die Dinge nehmen Konturen an, die ich sonst kaum an ihnen wahrnehme. Ich genieße an deiner Stelle, was du nicht mehr kennst. Selbst tot, machst du mich lebendiger.
    Mit fünf Jahren konntest du dir noch keinen Pullover anziehen. Obwohl er zwei Jahre jünger war, hat dein Bruder dir gezeigt, wie man es macht. Dein Vater hat gewitzelt, du könnest dir an ihm ein Beispiel nehmen, und hat dich am Ende einen Stümper genannt. Es war demütigend. Dein Bruder, der dich genauso bewunderte wie deinen Vater, saß zwischen zwei Autoritäten. Da er niemanden beleidigen wollte, sonnte er sich nicht in der Bemerkung deines Vaters. Seine Bescheidenheit erniedrigte dich vollends.
    Du ruhst allein in einem Grab aus schwarzem Stein, auf dem in Goldlettern dein Vorname und dein Nachname eingraviert sind. Darunter kann man den Tag deiner Geburt und den deines Todes lesen, fünfundzwanzig Jahre trennen den einen vom anderen.
    Wenn jemand mir von einem Selbstmord berichtet, denke ich an dich. Doch wenn mir jemand erzählt, dass einer an Krebs gestorben ist, denke ich nicht an meinen Großvater oder meine Großmutter, die auch daran gestorben sind. Sie teilen diesen Tod mit Millionen von Anderen. Du bist der Eigentümer des Selbstmords.
    Eine Ruine ist ein ästhetisches Zufallsobjekt. Ihre Schönheit ist keine gemachte. Man produziert keine Ruine, man hält sie nicht instand. Eine Ruine neigt zum Fall und Verfall. Das Schönste ist, was inmitten der Trümmer stehen bleibt. Die Erinnerung an dich ist das Aufragende, dein Körper das Verfallende. Dein Phantom hält sich in meiner Erinnerung aufrecht, während dein Skelett in der Erde zerfällt.
    Es gefiel dir, an einem 25. Dezember geboren zu sein: »Alles feiert, und niemand bemerkt, dass es auch mein Festtag ist. Dass man mich vergisst, erspart mir den Zwang, glänzen zu müssen.«
    Ein Mann hat einmal »Ich liebe dich« zu dir gesagt. Dieser Mann war nicht ich. Zu deinen Lebzeiten hätte ich nicht daran gedacht, aber heute könnte ich dasselbe sagen, auch wenn es sich nicht um dieselbe Liebe handelt wie jene, die man dir damals erklärte. Meine Worte kommen zu spät. Sie hätten nichts an deiner Entscheidung geändert, doch sie hätten meine Erinnerung verwandelt. Jemanden nach seinem Tod zu lieben, ist das Freundschaft?
    Ich kenne nur ein einziges Foto von dir. Ich habe es an deinem Geburtstag gemacht. Du warst bei uns zu Hause. Meine Mutter hatte einen Kuchen gebacken. Ich hatte meinen Fotoapparat schon bereitgelegt, damit du die Szene für die Aufnahme nicht mehrmals würdest spielen müssen. Ich habe dich fotografiert, als du die Kerzen ausgeblasen hast. Ohne Blitz. Das Bild ist unscharf. Es ist schwarzweiß. Deine Wangen sind gewölbt von deinem Atem, deine Lippen zusammengepresst, um die Luft auszustoßen. Der Ausschnitt zeigt nur dich, man sieht nicht, was dich umgibt. Du trägst einen großen
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