Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
Vom Netzwerk:
zugegangen und hast die Hand ausgestreckt, um ganz normal Guten Tag zu sagen, und hast deinem Gegenüber im letzten Moment mit derselben Formulierung geantwortet. Nichts hatte diesen Scherz angekündet. Du hast das Spiel auch nicht ein zweites Mal gemacht, um ihn noch einmal zum Lachen zu bringen. Du warst keiner, der auf Bestellung amüsierte.
    Du behauptetest, abends kleiner zu sein als morgens, weil dir die Schwerkraft die Wirbel zusammenstauche. Du sagtest, die Nacht gebe deinem Körper wieder, was der Tag ihm nehme.
    Du hast helle amerikanische Zigaretten geraucht. Dein Zimmer war erfüllt von ihrem süßlichen Geruch. Dich rauchen zu sehen weckte Lust, selber zu rauchen. In deiner Hand war eine Zigarette ein Kunstobjekt. Mochtest du das Rauchen oder deine Selbstdarstellung als Raucher? Du konntest perfekte dichte, schwere Kringel formen, die etwa zwei Meter lang in der Luft schwebten, bevor sie einen Gegenstand einhüllten und sich an ihm auflösten. Ich erinnere mich, wie sie nachts im Gegenlicht einer Lampe ihre Bahnen zogen. Als ich dich zum letzten Mal sah, hattest du aufgehört zu rauchen, aber nicht zu trinken. Du hast dir wohlgefällig über den Bauch gestrichen und dir dazu gratuliert, runder geworden zu sein, obwohl der Unterschied kaum sichtbar war. Deine Silhouette war unversehrt.
    Eine Erklärung für deinen Selbstmord? Keiner hat sich daran gewagt.
    Man kann nicht sagen, dass du getanzt hast. Die Musik konnte um dich herum dröhnen, die Körper vom Lauf der Bässe mitgerissen sein, doch die Musik drang nicht in dich. Du hast Schritte skizziert, aber du spieltest eher Tanzen, als dass du tanztest. Du hast immer allein getanzt. Wenn ein Blick den deinen kreuzte, hast du gelächelt wie einer, den man in einer absurden Situation ertappt.
    Deinem Selbstmord gingen keine fehlgeschlagenen Versuche voraus.
    Du hast den Tod nicht gefürchtet. Du bist ihm zuvorgekommen, ohne ihn wirklich zu ersehnen. (Wie soll man ersehnen, was man nicht kennt?) Du hast nicht das Leben verneint, sondern deine Vorliebe für das Unbekannte bejaht und darauf gewettet, dass es, wenn es auf der anderen Seite etwas geben sollte, besser sei als hier.
    Wenn du ein Buch last, blättertest du immer wieder auf die Seite mit der Überschrift Vom selben Autor. Du wusstest nicht, ob du die anderen Werke wirklich lesen wolltest, aber du stelltest dir gern vor, was sich hinter ihren Titeln verbarg. Du hattest Aufenthalt auf der Erde nicht gelesen, weil du befürchtetest, die Gedichte der Sammlung seien weniger wert als ihr Titel. Dir unbekannt hatten sie für dich mehr Gewicht als wenn du sie gelesen und für enttäuschend befunden hättest.
    Unter der Woche hattest du manchmal den Eindruck, es sei Sonntag.
    Du bist nicht gern gereist. Du bist wenig im Ausland gewesen. Du hast deine Zeit in deinem Zimmer verbracht. Es erschien dir unnütz, kilometerweit zu fahren, um dich zwischen Wänden wiederzufinden, die weniger komfortabel waren als die deinen. Es reichte dir, Ferien im Kopf zu entwerfen. In einem Heft hast du die Aktivitäten notiert, die du hättest unternehmen können, wenn du den Moden des zeitgenössischen Tourismus gefolgt wärst. Priester in einem indischen Tempel betrachten. Tauchen in Bali. Skifahren in Val-d’Isère. Eine Ausstellung in Helsinki besuchen. Schwimmen in Porto-Vecchio. Wenn du deines Zimmers überdrüssig warst, hast du deine Unruhe damit gestillt, deine Aufzeichnungen zu den »Ferien im Kopf« zu lesen und die Augen zu schließen, um sie vor dir zu sehen.
    Einmal habe ich dich gefragt, warum du so wenig reistest. Du hast mir die Geschichte eines mit deiner Mutter befreundeten Schriftstellers erzählt, der ein Stipendium erhalten hatte, um einige Monate im Ausland zu verbringen. Er wollte Stoff für eine fiktive politische Geschichte sammeln, die in einem imaginären Land spielen sollte. Das wirkliche Land, in das er fuhr und das vor dreißig Jahren von einer Diktatur in die Knie gezwungen worden war, sollte ihm als Modell dienen. Dort angekommen, begriff er innerhalb eines Tages die Absurdität seines Vorhabens: Eine Stoffsammlung wäre ihm keinerlei Hilfe gewesen. Seine Vorstellung war alles, was ihm zur Verfügung stand, aber er hatte diese Reise unternehmen müssen, um diese Tatsache zu begreifen. Sein Aufenthalt von sechs Monaten reduzierte sich auf zwei Tage. Er nahm das erstbeste Flugzeug, um nach Hause zurückzukehren.
    Ich wusste nicht, ob du eine Fremdsprache beherrschtest. Eines Tages kam eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher