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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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Lebenskraft verschwunden. Jung, stark, gesund. Dein Tod war der Tod vom Leben. Und doch möchte ich glauben, dass du das Gegenteil verkörperst: das Leben vom Tod. Ich suche nicht nach einer Vorstellung, in welcher Form du deinen Selbstmord überlebt haben könntest, aber dein Verschwinden ist eine solche Zumutung, dass es diesen Wahnwitz gebiert: zu glauben, du seist ewig.
    Du bist nicht nach Peru gefahren, du hast keine schwarzen Halbstiefel getragen, du bist keinen Weg rosafarbener Kieselsteine barfuß entlanggelaufen. Die Anzahl der Dinge, die du nicht getan hast, macht schwindeln, weil sie die Anzahl der Dinge beleuchtet, derer wir selbst eines Tages beraubt sein werden. Die Zeit wird uns fehlen. Du hast beschlossen, sie dir gar nicht erst zu nehmen. Du hast auf die Zukunft verzichtet, die uns zu leben möglich macht, weil wir sie für unendlich halten. Man möchte die ganze Welt umarmen, von all ihren Früchten kosten, alle Menschen lieben können. Diese Illusionen nähren uns; du hast es abgelehnt, dich ihnen hinzugeben.
    Wenn du auf Reisen warst, erschien dir ein neues, nächstes Reiseziel immer erstrebenswerter als der Ort, an dem du dich befandst – bis du bei der nächsten Ankunft feststelltest, dass der ungestillte Hunger mit dir gereist war: Die Fata Morgana hatte sich nur nach hinten verschoben, hin zur nächsten Etappe. Und doch erschienen dir die vorangegangenen Stationen umso schöner, je weiter du dich von ihnen entferntest. Die Vergangenheit bog sich gerade, die Zukunft zog dich an, doch die Gegenwart wog dir schwer.
    Wenn du gereist bist, dann um das Vergnügen zu kosten, Fremder in einer fremden Stadt zu sein. Hier warst du Publikum statt Darsteller: fahrender Zuschauer, stiller Zuhörer oder zufälliger Tourist. Nach dem Gelegenheitsprinzip besuchtest du öffentliche Orte, Plätze, Straßen und Parks und gingst in Geschäfte, Restaurants, Kirchen und Museen. Du mochtest die Orte, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, und wo niemand sich wundert, wenn einer verharrt und reglos mitten im Strom der Stadt stehenbleibt. Die Menge garantierte deine Anonymität. Eigentum schien abgeschafft. All die Gebäude, Gehsteige und Mauern gehörten zwar jemandem, aber nichts gab dir einen Hinweis, wem. Die Unverständlichkeit der Sprache und der lokalen Gebräuche hinderten dich daran, die Besitzverhältnisse zu kennen oder zu erraten. Du triebst in einer Art Kommunismus des Augenscheins dahin, in dem die Dinge dem gehören, der sie anschaut. Und inmitten dieser Utopie, die nur deinesgleichen, den Alleinreisenden, bekannt ist, missachtetest du ohne dein Wissen soziale Regeln und niemand nahm es dir übel: Du betratst Privatwohnungen und lauschtest Konzerten, zu denen niemand dich eingeladen hatte, du aßt auf Banketten von Gemeinschaften, deren Identität du erst im Moment des Gesprächs errietst. Hättest du dich in deinem eigenen Land so aufgeführt, hätte man dich für einen Lügner gehalten oder als Geistesgestörten behandelt. Fremden dagegen sieht man solch merkwürdige Manieren nach. Weit von zu Hause entfernt hast du es genossen, verrückt zu sein, ohne als nicht zurechnungsfähig zu gelten, dumm zu sein, ohne auf deine Intelligenz zu verzichten, Hochstapler zu sein, ohne ein Delikt zu begehen.
    Ein fremdes Land war wie eine Person, der du auf Augenhöhe begegnen wolltest, wie ein Freund, den man von Angesicht zu Angesicht in einem Café trifft. Wenn du in Begleitung reistest, verkleinerte sich das Land, denn dein Kompagnon wurde ebenso sehr Gegenstand der Reise wie das Land selbst. Bei Gruppenreisen schließlich wurde das Land zu einem stillschweigenden Gastgeber, den man vergisst wie einen zu schüchternen Mitbewohner: Das Hauptmotiv wurde zur Leinwand. Am Ende einer lustigen, geschwätzigen Gruppenreise nach England trafst du den Entschluss, dass es mit diesen Ferienlagern für Erwachsene endgültig vorbei sei. Du warst mit einer Gruppe von Blinden umhergelaufen. Von nun an würdest du reisen, um zu sehen. Und du würdest allein reisen, um dich im Schauspiel des Unbekannten aufzulösen. Die Tatsachen haben deinen Entscheidungen widersprochen: Du bist nie wieder ins Ausland gefahren.
    Wenn du in einem Café saßt, genügte es dir, vorbeischlendernde Passanten einige Sekunden lang anzuschauen, um sie mit zwei, drei schneidenden Worten abzustempeln. Aus einem Individuum oder einem Detail machtest du eine grausame Kategorie. Unbefleckter Mittfünfziger, Riesenzwerg, menschenfressendes Ungeheuer in
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