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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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Bluse, rechtswählender Swinger, kaufmännischer Angestellter mit Gliederarmband, gefärbter Greis mit Absatzerhöhung, pädophiler Buchhalter, Heteroschwuchtel. Die Offenkundigkeit fand Widerhall in den Ohren deiner Gesprächspartner und löste in diesen eine noch größere Spottlust aus. Du warst weder gemein noch zynisch, sondern schlicht unbarmherzig. Nach einem samstagnachmittäglichen Besuch der Brasserie in der Innenstadt mit Panoramablick durch die Fensterscheiben auf die Menge fragte man sich beim Abschied, wie du wohl uns beschrieben hättest, wenn wir einige Minuten zuvor an dir vorbeispaziert wären. Und zitterte bei der Vorstellung, wie dein bohrendes Auge in jedem von uns die Inkarnation eines Typus ausgemacht hätte.
    Wie andere Romane lesen, hast du Lexika gelesen. Jedes Stichwort ist eine Figur, sagtest du, die man in verschiedenen Rubriken wiederfindet. Die Handlungsstränge ergeben sich aus dem zufälligen Verlauf der Lektüre. Je nach Reihenfolge ändert sich die Geschichte. Ein Lexikon ist der Welt ähnlicher als ein Roman, denn die Welt ist keine zusammenhängende Folge von Handlungen, sondern eine Komposition von Wahrnehmungen. Man schaut sie an, Dinge ohne Beziehung treffen aufeinander, und die geographische Nähe verleiht ihnen einen Sinn. Wenn Ereignisse aufeinander folgen, glaubt man, es sei eine Geschichte. In einem Lexikon dagegen gibt es keine Zeitfolge: ABC ist nicht mehr oder weniger chronologisch als BCA. Dein Leben in einer zusammenhängenden Ordnung zu beschreiben, wäre absurd. Die Gelegenheit macht die Erinnerung an dich. Mein Hirn lässt dich so zufällig in Details auferstehen, wie man Murmeln aus einem Beutel fischt.
    Da du an mündliche Erzählungen nicht glaubtest, hörtest du solchen nur mit halbem Ohr zu, um ihr Skelett aufzuspüren. Dein Körper war da, doch dein Verstand entfernte und näherte sich wie ein blinzelnder Zuhörer. Du stelltest die Aussagen in einer anderen Reihenfolge zusammen. Du untersuchtest ihre Beständigkeit wie einer, der ein dreidimensionales Objekt betrachtet, und strichst um sie herum, um sie dir von allen Seiten gleichzeitig vor Augen zu führen. Du hast das Licht gesucht, das um die anderen erstrahlt, die Fotografie, die den Verlauf ihrer Jahre in einer Sekunde zusammenzufassen vermag. Du stelltest ihre Lebensgeschichten in Panoramen zusammen. Du nähertest weit entfernte Ereignisse einander an und komprimiertest die Zeit, um jeden Augenblick mit den anderen in Berührung zu bringen. Du hast Dauer in Raum übersetzt. Du suchtest das Alpha des Anderen.
    Der private Tennisplatz eines benachbarten Grundstücks war verwahrlost. Zu der Zeit, als er noch in Gebrauch war, hatte man ihn ganze zehn Tage im Jahr benutzt. Da er schlecht gepflegt wurde, war er schließlich vergessen worden: Das Netz hing in der Mitte durch, die weißen Linien waren schwarz geworden, die gewalzte Erde war von grünen Pilzen durchfressen. Du sahst ihn durch die Thujen hindurch am Parkende des Grundstücks: eingefasst von einem rostigen Drahtzaun, von den Erwachsenen aufgegeben, an manchen Sonntagen von Kindern wiederentdeckt, einem Geisterhaus gleich, wo man meint, mitten am Tag Gespenster in altmodischer Sportkleidung herumspuken zu sehen. Er schreckte dich wie ein zwanzigjähriger Obdachloser oder eine schöne Verkrüppelte in ihrer verletzten, nur halb lebendigen Gestalt. Obwohl du darin dein Selbstportrait sahst, bist du dieser modernen Ruine nicht ausgewichen. Daran entlangzulaufen war wie an einem Vanitas-Stillleben vorbeizugehen. Todesmetaphern beunruhigten dich, doch du hast ihnen nicht die Vorstellung verweigert. Sie waren Bewährungsproben, die man überwinden musste, um das Leben zu schätzen – in der Erinnerung seines Gegenteils.
    Du hast dich nicht darüber gewundert, dich als weltfremd zu empfinden, sondern über die Tatsache gestaunt, dass die Welt ein Wesen hervorgebracht hatte, welches in ihr wie in der Fremde lebte. Bringen Pflanzen sich um? Sterben Tiere an Hoffnungslosigkeit? Nein, sie funktionieren oder verschwinden. Vielleicht warst du ein schwaches Glied in der Kette, eine Zufallserscheinung der Evolution. Eine kurzzeitige Anomalie, die nicht dazu bestimmt war, noch einmal aufzutreten.
    Du hattest kein Gedächtnis für Details. Um bei einem Unfall die vorausgegangenen Ereignisse in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben, wärst du ein schlechter Zeuge gewesen. Dafür ließen dich deine Langsamkeit und Reglosigkeit den Leerlauf in der allgemeinen
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