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Die Zarentochter

Die Zarentochter

Titel: Die Zarentochter
Autoren: Petra Durst-Benning
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PROLOG
    St. Petersburg, 14 . Dezember 1825
    D ie Stiefel der Männer klackten laut auf dem gewienerten Parkettboden des Kabinettzimmers. Immer mehr drängten in den Raum. Das Licht wurde von den Mengen schwarzen Leders aufgefressen. Kleine Holzspäne flogen in die Luft, abgerieben von den mit eisernen Kappen und Nägeln beschlagenen Absätzen. Die Stiefel versammelten sich in einem Halbrund vor dem riesigen Schreibtisch, Schneeklumpen lösten sich von den Schäften und fielen kalt und weiß zu Boden. Wasserlachen bildeten sich ringsum.
    Voller Entsetzen starrte das Kind auf den geschundenen Boden.
    Wenn das Pjotr sah! Vaters Kammerdiener, der immer darauf achtete, dass keines der Kinder mit verdreckten oder nassen Straßenschuhen Vaters Heiligtum betrat!
    Unwillkürlich fiel der Blick des Kindes auf die eigenen Füße, die in groben Wollstrümpfen steckten. Genau wie die zwei Fußpaare neben ihm, die Mary und Sascha gehörten.
    Zu dritt kauerten die Geschwister hinter dem riesigen Vertiko, das den düster getäfelten Raum in einen Arbeitsbereich und einen halb privaten Wohnraum trennte.
    »Was wollt ihr?«, herrschte ihr Vater die Männer an. Wie ein angriffslustiger Löwe stand er hinter seinem Schreibtisch. Rund um seine Füße gab es keine Wasserlachen.
    »Du weißt, was wir wollen!« Eine unbekannte Stimme, böse.
    »UnsereFreiheit!« Schneidend wie ein Schwert, diese Stimme. »Und Demokratie!«
    »Für eine Klärung der Machtverhältnisse wollen wir sorgen!«
    »Den Thron für Konstantin!«
    Olly hielt sich die Ohren zu, um dem lauten Stimmengewirr zu entkommen. Konstantin! Die Männer meinten ihren Onkel mit den struppigen Augenbrauen, die wie kleine Tiere aussahen. Der Gedanke an Onkel Konstantin vertrieb einen Moment lang Ollys Angst, doch dann erinnerte sie sich daran, dass ihre Mutter immer die Nase rümpfte, wenn die Rede auf ihn kam. Er sei seltsam, meinte sie.
    »Eine Klärung der Machtverhältnisse?«
    Die Stimme ihres Vaters klang dumpf durch die gewölbten Handflächen an ihre Ohren.
    »Freiheit, Demokratie – ihr müsstet euch mal reden hören! Wie ein Haufen Schwachsinniger hört ihr euch an.«
    Mary und Olly tauschten einen Blick. Wenn der Vater so wütend war, legte man sich am besten nicht noch mehr mit ihm an. Aber das wussten die fremden Besucher scheinbar nicht …
    Durch die offene Tür kroch eisige Winterluft. Um der vom Boden aufsteigenden Kälte zu entgehen, kauerte sich Olly auf ihre Fersen.
    Ach, warum waren sie überhaupt in den riesengroßen, schrecklichen Winterpalast gezogen! In ihrem alten Zuhause, dem Anitschkow-Palast, hätten Sascha, Mary und sie jetzt bestimmt in ihren eigenen Zimmern gespielt. Dort war es gemütlich, dort hätten sie sich nicht so verloren gefühlt wie hier. Nach Tagen wussten die Geschwister immer noch nicht genau, wo inmitten der tausend Räume die Gemächer der Eltern lagen. Auch hatten sie Mühe, ihre eigenen Zimmer zu finden.
    Die laute Stimme des Vaters beendete Olgas Tagträumereien.
    »Ihr wisst, dass ich sofort nach Bekanntwerden von Alexanders Tod einen Eid auf Konstantin geleistet habe. Gern hätte ich ihm meine treue Gefolgschaft zugesichert. Es ist euch jedoch genauso bekannt wie mir, dass mein älterer Bruder schon vor Ewigkeiten in einem Geheimpapier auf die Thronfolge verzichtet hat. Bis er sei nenVerzicht nun auch offiziell und in aller Öffentlichkeit ausspricht, kann es sich nur noch um wenige Tage handeln. Danach werde ich als Drittgeborener die Krone übernehmen – so sieht es das Gesetz vor. Was also macht ihr mir zum Vorwurf? Dass ich – im Gegensatz zu euch – Ehre und Großmut im Leib habe?« Bei den letzten Worten machte ihr Vater einen Schritt nach vorn. Sofort wurde der Halbkreis von Stiefeln um ihn herum enger. Mit angehaltenem Atem lugte Olly vorsichtig hinter dem Vertiko hervor.
    Die Männer hatten ihre Schwerter gezückt und hielten sie ihrem Vater entgegen! Olly konnte gegen das Wimmern, das aus ihrem Mund drang, nichts tun. Sofort bekam sie von Sascha einen Stoß in die Rippen. Wenigstens schob er nicht ihre Hand weg, sondern drückte sie sogar, was Olly tröstlich fand. Im nächsten Moment spürte sie auch Marys Arm um sich herum. Die ältere Schwester zitterte wie Espenlaub.
    »Wir werden es nicht zulassen, dass Ihr auf dem Grab unseres verstorbenen Zaren Alexander einen Freudentanz vollführt! Die Lage ist ernst, Großfürst Nikolaus. Nicht nur wir, auch unsere Regimenter werden Euch den Eid verweigern!«
    Olly runzelte
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