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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition)
Autoren: Édouard Levé
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seiner Aufrichtigkeit gezweifelt, obwohl ich vermutete, dass er eher vom Tod überhaupt als speziell von deinem Tod berührt war. Inmitten der Messe hat jemand angefangen, heftig zu atmen. Ich konnte nicht sehen, woher das Keuchen kam. Man hätte glauben können, ein wildes Tier fände sich nach einer langen Treibjagd in einer Sackgasse wieder. Einige sind aufgestanden und haben deinen Bruder zu einer Stuhlreihe getragen. Sein Weinen war in eine Nervenkrise übergegangen. Einige Minuten später, während er noch immer schluchzte, wurde deine Schwester von demselben Taumel erfasst. Auch sie hat man hingelegt. Zwei Tiere, die sich in der Tristesse deiner Beerdigung verirrt hatten. Deiner Mutter gelang es noch, sich aufrecht zu halten. Der irritierte Priester fuhr mit seiner Predigt fort. Am Ende wagte keiner mehr, den anderen anzusehen, als fühlten sich alle schuldig. Woran? Deine Mutter schritt langsam mit gesenktem Kopf voran und stützte sich auf den Arm deines Stiefvaters. Dein Vater, der sich abseits hielt, befand sich für den Schuldigsten. Doch sein schlechtes Gewissen erniedrigte dich noch ein letztes Mal: Indem er sich dafür verantwortlich machte, vereinnahmte er auch noch deinen Tod.
    Deine Vorliebe für Literatur kam nicht von deinem Vater, der wenig las, sondern von deiner Mutter, die Literatur unterrichtete. Du fragtest dich manchmal, wie zwei so unterschiedliche Wesen jemals hatten zusammenfinden können – und stelltest fest, dass sich in dir die Gewalttätigkeit des einen und die Sanftheit der anderen gemischt hatten. Dein Vater ließ seine Gewalt an anderen aus. Deine Mutter litt mit anderen, wenn diese Schmerzen empfanden. Eines Tages hast du für dich selbst die Gewalt bestimmt, die du geerbt hattest. Wie dein Vater hast du sie verübt, und wie deine Mutter hast du sie erlitten.
    Du mochtest alte Dinge, aber nicht solche, die man auf Flohmärkten findet. Zu wissen, dass ein Gegenstand einmal anderen gehört hatte, gefiel dir, nicht aber, seinen Vorbesitzer nicht zu kennen.
    An deinem Körper gab es kein Gramm Fett, das von früheren Exzessen gezeugt hätte. Du warst schmal, drahtig und muskulös. Dein Gesicht hatte einen angespannten Ausdruck, doch als ich dich eines Nachmittags auf einem Liegestuhl schlafen sah und deine Nerven entspannt waren, erkannte ich, dass dieser Anschein von der scharfen, kantigen Gestalt deines Gesichts herrührte.
    Du redetest ohne Mimik und Gesten. Still wie du warst, sprachen deine Augen anstelle deines Körpers. Deine Gesichtszüge belebten sich so selten, dass du durch ein einfaches Kräuseln deiner Lippen Lachen oder Verunsicherung auslösen konntest.
    Dein Leben war weniger freudlos, als dein Selbstmord es nahelegt. Man hat gesagt, du seist an Traurigkeit gestorben. Doch Leid existierte weniger in dir als in denen, die sich an dich erinnern. Du bist gestorben, weil du das Glück suchtest – auf die Gefahr hin, Leere vorzufinden. Wir werden warten müssen bis wir selbst sterben, um zu wissen, was du gefunden hast. Oder um gar nichts mehr zu wissen, falls Stille und Nichtigkeit uns erwarten.
    Deine Art, aus dem Leben zu scheiden, hat deine Lebensgeschichte mit einem negativen Vorzeichen versehen. Jeder, der dich kannte, deutet jetzt all deine Handlungen im Licht der letzten. Der Schatten dieses großen schwarzen Baumes verdeckt von nun an den Wald, der dein Leben gewesen ist. Wenn man von dir spricht, erzählt man sich zuerst von deinem Tod, bevor man durch die Zeit zurücktappt, um eine Begründung dafür zu finden. Ist es nicht eigenartig, dass diese letzte Handlung deinen Lebensweg umstülpt? Ich habe nach deinem Tod nie gehört, dass jemand, der von deinem Leben sprach, bei seinem Beginn ansetzte. Dein Selbstmord ist der Gründungsakt, und all dein früheres Tun, das du mit dieser Tat, deren Absurdität du mochtest, vom Gewicht des Sinns befreien wolltest, ist nun, ganz im Gegenteil, durch sie entstellt. Deine letzte Sekunde hat dein Leben für die Sicht der anderen umgekehrt. Du bist wie ein Schauspieler, der am Ende des Stücks mit einem letzten Satz enthüllt, dass er die ganze Zeit über eine andere Figur war als die, deren Rolle er gespielt hat.
    Du bist keiner von denen, die krank und alt, mit gespenstisch welkem Körper enden und die dem Tod schon ähneln, bevor sie aufgehört haben zu leben. Ihr Tod steht am Ende eines schleichenden Verfalls. Und bedeutet der Tod für eine Ruine nicht Erlösung? Der Tod vom Tod? Du dagegen bist in vollstem Besitz deiner
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