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Selbstmord der Engel

Selbstmord der Engel

Titel: Selbstmord der Engel
Autoren: Jason Dark
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Fast in Griffweite lag der Körper der Gestalt, die sie als Engel angesehen hatte. Die Person hatte sich einen perfekten Landeplatz ausgesucht, der nur in den Tod führen konnte. Es war ein Buckel gewesen, der beim Aufprall die Knochen sicherlich gebrochen hatte. Der Körper war dann abgerutscht und lag mit den Beinen bis fast hoch zu den Schenkeln in einer kleinen Mulde, die sich in regelmäßigen Abständen mit Wasser füllte.
    Der Körper bewegte sich von allein nicht mehr. Wenn etwas mit ihm passierte, dann durch die Macht des Wassers. Aber Carlotta wollte genau wissen, was mit ihm geschehen war. Sie ging hin, und es machte ihr nichts aus, vom Wasser umspült zu werden. Von oben herab regneten noch die Gischttropfen auf sie nieder.
    Sie bückte sich und fasste den Körper an den Schultern an. Carlotta besaß eine große Kraft. So zog sie die leblose Gestalt nahezu mit einer Leichtigkeit zu einer einigermaßen trockenen Stelle hin, die ihr genehm war. Dort hatte sich sogar ein kleiner Sandstreifen gebildet.
    Sie legte den »Engel« auf den Rücken. Der erste Blick in das Gesicht der Fremden sagte ihr alles. Es gab kein Leben mehr darin. Die Person mit den Flügeln war tot. Sie hatte sich selbst umgebracht. Man konnte von einem perfekten Selbstmord sprechen, und Carlotta war Zeugin gewesen.
    Es gab keinen normalen Körper mehr. Sie erlebte jetzt, dass der Kopf verdreht war. Die Person mit den blonden Haaren musste sich beim Aufprall das Genick gebrochen haben. Möglicherweise war sie auch bewusst so gefallen, damit dies eintrat.
    Das Gesicht sah so ruhig aus. Beinahe zufrieden. Die Augen waren nicht geschlossen. Carlotta hatte das Gefühl, dass sich in den blassen Pupillen das Licht der Sterne fing.
    Die Tote war noch jung. Nicht so jung wie Carlotta, aber viel älter auch nicht. Kleine Brüste wuchsen aus dem Oberkörper hervor. Der lange Rock sah jetzt aus wie ein nasser Lappen, und Carlotta fragte sich natürlich, warum sich dieses Wesen über die Klippen in den Tod gestürzt hatte. Die Flügel gab es ebenfalls noch. Nur waren sie leicht geknickt. Sie bestanden aus einem weichen Material, aber nicht aus Federn.
    Carlotta war ratlos. Sie wusste nicht, was sie unternehmen sollte. Hier auf den Klippen liegen lassen konnte sie die Tote auch nicht. Es musste einen Ausweg geben.
    Wenn sie ihre Ausflüge unternahm, musste sie für eine bestimmte Sicherheit sorgen. Darauf hatte Maxine Wells bestanden. So trug Carlotta immer ihr schmales Handy bei sich.
    Es war für Notfälle gedacht, und ein solcher Notfall war jetzt eingetreten.
    Neben der Leiche hockend, nahm sie den Kontakt mit ihrer Ziehmutter auf. Sie drehte sich so, dass das Rauschen des Meeres nicht mehr zu störend wirkte.
    Maxine meldete sich mit ruhiger Stimme, aber das Vogelmädchen spürte schon die Spannung, die darin mitschwang.
    »Ich bin es nur, Maxine.«
    »Carlotta! Was ist los?«
    »Ich brauche deinen Rat.«
    »Ist dir etwas passiert?« Maxine’s Stimme klang aufgeregt. Sie machte sich immer große Sorgen um ihren Schützling.
    »Nein, nein, mir ist nicht passiert. Du brauchst keine Sorgen zu haben. Aber es gibt ein Problem.«
    »Welches?«
    Carlotta musste sich stark zusammenreißen, um die richtigen Worte zu finden. Lange sprach sie nicht, das Wesentliche war schnell gesagt, aber sie stellte eine Frage.
    »Was soll ich jetzt machen?«
    »Lass mich nachdenken.«
    »Gut.«
    »Und du bist sicher, dass die Gestalt tot ist?«
    »Ja, das bin ich.«
    »Dort liegen lassen kannst du den Engel nicht, Carlotta. Er darf unter keinen Umständen gefunden werden.«
    »Das hatte ich mir auch gedacht.«
    »Dann gibt es nur eine Lösung. Du nimmst ihn mit und bringst ihn zu mir.«
    Das Vogelmädchen atmete tief ein. »Ja, Maxine, das hatte ich mir auch vorgestellt. Ich wollte nur auf Nummer Sicher gehen und dich fragen. Ich kann mir die Gestalt nicht erklären. Mit mir hat sie nur gemeinsam, dass sie fliegen kann. Ansonsten ist sie anders. Ich habe sie auch als sehr leicht empfunden. Leichter als einen Menschen zumindest.«
    »Dann wäre es gut, wenn du dich sofort auf den Weg machst, Carlotta. Zögere nicht mehr.«
    »Gut, Max.«
    »Aber halte deine Augen offen. Es könnten Feinde unterwegs sein. Lass dich nicht überraschen.«
    »Keine Sorge, ich werde mich schon vorsehen.« Carlotta steckte die Hände wieder in die rechte Gesäßtasche ihrer Hose und bückte sich der Leiche entgegen. Als ihre Hände sie diesmal anfassten, rann ein Schauer über ihren Rücken.
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