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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord
Autoren: Schlink
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zweihundert Jahren zusammengetan. Die Bank hat den Gotthard-Tunnel und die Anden-Bahn mitfinanziert.« Ich gab ein bißchen mit meinen frisch erworbenen Kenntnissen an. Da sage jemand, daß Angeben nichts bringt.
    »Ah, um die Bank geht es! Hat sie nicht auch die Eisenbahn Michelstadt-Eberbach gebaut? Warten Sie einen Augenblick.« Ich hörte ihn den Hörer ablegen, einen Stuhl rücken und eine Schublade auf- und zumachen. »Es gibt in Schwetzingen einen Herrn Schuler, der mit dem Archiv der Bank zu tun hat. Er forscht über die Geschichte der badischen Eisenbahnen und hat uns mit seinen Fragen ganz schön beschäftigt.«
    »Haben Sie Schulers Adresse?«
    »Zur Hand habe ich sie nicht. Sie muß im Ordner mit der Korrespondenz sein. Ob ich sie Ihnen allerdings … Ich meine, das sind persönliche Daten, oder? Und die sind geschützt, oder? Warum, wenn ich fragen darf, wollen Sie seine Adresse?«
    Aber da hatte ich schon das Telephonbuch hervorgeholt, bei Schwetzingen aufgeschlagen und den Lehrer a. D. Adolf Schuler gefunden. Ich dankte und legte auf.

6
Nicht blöde
    Der Lehrer a. D. Adolf Schuler bewohnte ein kleines Haus hinter dem Schloßpark, kaum größer als die benachbarten Gartenhäuser. Nachdem ich vergebens nach einer Klingel gesucht und an die Haustür gepocht hatte, ging ich durch den schneematschigen Garten ums Haus und fand die Küchentür offen. Er saß am Herd, löffelte aus einem Topf, las in einem Buch und hatte Tisch und Boden, Kühlschrank und Waschmaschine, Anrichte und Schränke mit Büchern, Ordnern, dreckigem Geschirr, vollen und leeren Dosen und Flaschen, schimmelndem Brot, faulendem Obst und schmutziger Wäsche vollgepackt. Es stank säuerlich und modrig, eine Mischung aus Keller- und Essensgestank. Auch Schuler selbst stank; sein Atem roch faulig, und sein fleckiger Trainingsanzug dünstete alten Schweiß aus. Er hatte eine schweißgeränderte Kappe auf dem Kopf, wie die Amerikaner sie tragen, eine metallene Brille auf der Nase und so viele Altersflecken im runzligen Gesicht, daß es nach einer eigenen, dunklen Hautfarbe aussah.
    Er beschwerte sich nicht, daß ich plötzlich in der Küche stand. Ich stellte mich als pensionierten Amtmann aus Mannheim vor, der sich endlich mit der Geschichte des Eisenbahnwesens beschäftigen kann, für die er sich schon immer interessiert hat. Schuler war anfangs brummig, wurde aber freundlich, als er meine Freude an den Schätzen seines Wissens merkte. Er breitete sie gerne aus, führte mich im Dachsbau seines mit Büchern und Papieren vollgestopften Hauses von einer Höhle zur anderen, von einem Gang zum nächsten, um hier ein Buch und dort eine Akte zu holen und mir zu zeigen. Nach einer Weile schien er nicht zu merken oder schien ihn nicht zu stören, daß ich nicht mehr nach der Beteiligung des Bankhauses Weller & Welker am badischen Eisenbahnbau fragte.
    Er erzählte von der Brasilianerin Estefania Cardozo, Zofe am Hof Pedros II., die der alte Weller 1834 auf einer Reise durch Mittel- und Südamerika heiratete, und von ihrem Sohn, der in jungen Jahren nach Brasilien durchbrannte, dort ein eigenes Geschäft gründete und erst nach dem Tod des alten Weller mit seiner brasilianischen Frau nach Schwetzingen zurückkehrte und das Bankhaus mit dem jungen Welker weiterführte. Er erzählte von der Hundertjahrfeier, die im Schloßpark gefeiert wurde, zu der der Großherzog kam und bei der sich ein badischer Leutnant aus der Familie Welker und ein preußischer Leutnant aus der Entourage des Großherzogs so in die Haare gerieten, daß sie sich am Morgen des nächsten Tages duellierten, wobei zu Schulers badischer Freude der Preuße ins Gras biß. Er erzählte auch von dem sechzehnjährigen Welker, der sich im Sommer 1914 in die fünfzehnjährige Weller verliebte und, weil er sie nicht heiraten durfte, bei Kriegsausbruch freiwillig meldete, um bei einem törichten kavalleristischen Bravourstück den Tod zu suchen und zu finden.
    »Mit sechzehn?«
    »Wofür sollen sechzehn Jahre zu jung sein? Fürs Sterben? Für den Krieg? Für die Liebe? Die junge Weller hatte portugiesisches und indianisches Blut, von der Mutter und von der Großmutter, und war mit fünfzehn Jahren ein Weib, das einem schon die Augen verdrehen und die Sinne verwirren konnte.« Er führte mich zu einer Wand, an der Photographie an Photographie hing, und zeigte mir eine junge Frau mit großen, dunklen Augen, vollen Lippen, reicher Lockenpracht und schmerzlichem, hochmütigem Ausdruck. Ja, sie war
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