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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord
Autoren: Schlink
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wurde verbunden. »Ah, Herr Selb. Schön, daß Sie sich melden, mir wär’s heute oder morgen recht, am liebsten …« Für einen Augenblick erstickten seine Worte in der abgedeckten Sprechmuschel. »Können Sie heute um 14 Uhr?«
    Die Fahrbahn war trocken. Der Schnee schmutzte am Straßenrand, war von den Bäumen getropft und auf den Äckern in die Furchen geschmolzen. Unter tiefem, grauem Himmel warteten die Verkehrsschilder, Leitplanken, Häuser und Zäune aufs Frühjahr und den Frühjahrsputz.
    Das Bankhaus Weller & Welker gab sich nur mit einer kleinen, angelaufenen, messingnen Tafel zu erkennen. Ich drückte einen messingnen Klingelknopf, und die Tür, die in ein großes Tor eingelassen war, schwang auf. In der überwölbten, gepflasterten Einfahrt führten links drei Stufen zu einer weiteren Tür, die sich öffnete, während sich die erste schloß. Ich ging hoch und trat ein, und es war, als wechselte ich von unserer in eine andere Zeit. Die Schalter waren aus dunklem Holz, hatten in Brust- und Kopfhöhe hölzerne Gitter und daneben Intarsien aus hellem Holz, ein Zahnrad, zwei gekreuzte Hämmer, ein Rad mit Flügeln, einen Mörser mit Stößel, ein Kanonenrohr. Die Sitzbank an der anderen Seite des Raums war aus dem gleichen dunklen Holz; auf ihr lagen dunkelgrüne, samtene Kissen. Die Wände waren mit dunkelgrünem, schillerndem Stoff tapeziert, und die Decke war mit reichem Zierat versehen, wieder aus dunklem Holz.
    Im Raum war es still. Kein Rascheln von Scheinen, kein Klirren von Münzen, keine gedämpften Stimmen. Hinter den Gittern sah ich weder die Männer mit Schnurrbart, am Schädel klebendem Haar, Bleistift hinter dem Ohr, Ärmelschonern oder Gummiband am Oberarm, die hierher gepaßt hätten, noch ihre modernen Nachfahren. Ich trat näher an einen Schalter, sah den Staub im Gitter, wollte einen Blick hindurchwerfen. Da ging die der Eingangstür gegenüberliegende Tür auf.
    Auf der Schwelle stand der Chauffeur. »Herr Selb, ich …«
    Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Welker eilte an ihm vorbei auf mich zu. »Schön, daß Sie’s möglich machen konnten. Der letzte Besucher ist gerade gegangen, lassen Sie uns nach oben gehen.«
    Hinter der Tür begann eine schmale, steile Treppe. Ich folgte Welker die Treppe hinauf, und der Chauffeur folgte mir. Die Treppe mündete in einen großen Büroraum mit Trennwänden, Schreibtischen, Computern und Telephonen, mehreren jungen Männern mit dunklen Anzügen und ernsten Gesichtern und der einen und anderen jungen Frau. Schnellen Schritts eskortierten Welker und der Chauffeur mich hindurch und in das Chefbüro mit Fenstern zum Schloßplatz. Ich wurde auf ein ledernes Sofa komplimentiert, auf den einen Sessel setzte sich Welker und auf den anderen der Chauffeur.
    Welker streckte einladend und erläuternd seinen Arm aus. »Gregor Samarin gehört zur Familie. Er fährt lieber und besser als ich …«, Welker sah das Staunen in meinem Gesicht und betonte, »doch, er fährt gerne und gut, und daher haben Sie ihn neulich am Steuer erlebt. Aber es ist nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe ist alles Praktische.« Welker guckte zu Samarin, als wolle er sich dessen Zustimmung versichern.
    Samarin nickte langsam. Er mochte Anfang Fünfzig sein, hatte einen massigen Kopf, eine leicht fliehende Stirn, blaßblaue, hervortretende Augen, kurzgeschorenes helles Haar und saß breitbeinig und selbstbewußt da.
    Welker redete nicht sofort weiter. Zuerst dachte ich, er überlege, was er sagen wolle, aber dann fragte ich mich, ob sein Schweigen eine Botschaft sei. Was für eine? Oder wollte er mir Gelegenheit geben, alles aufzunehmen, die Atmosphäre, Gregor Samarin, ihn? Er war, als er mich begrüßt, in sein Büro und aufs Sofa gebeten hatte, auf selbstverständliche Weise aufmerksam und höflich gewesen, und ich konnte ihn mir als gewandten Gastgeber vorstellen oder auf diplomatischem oder akademischem Parkett. War das Schweigen Stil, alte Schule, gute Familie? Er sah nach guter Familie aus: klare, sensible, intelligente Züge, aufrechte Haltung, gemessene Bewegungen. Zugleich sah er melancholisch aus, und wenn sein Gesicht bei der Begrüßung oder bei einem Lächeln für einen Moment fröhlich wurde, fiel doch gleich wieder ein Schatten darauf und verdunkelte es. Es war nicht nur der Schatten der Melancholie. Ich entdeckte um seinen Mund auch einen verdrossenen, schmollenden Zug, eine Enttäuschung, als habe das Schicksal ihn um eine Verwöhnung betrogen, die es ihm versprochen
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