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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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seiner Mutter, den Fangesängen vom Zielraum, die nach oben stiegen, Jubel, vom Wind getragen, Lautsprecheransagen, und da lagen zwei Jungen, die mit den Köpfen aneinander gestoßen waren und schossen durch einen Luftraum, der so außer Rand und Band war wie alles auf dem Boden. Fehlten nur noch die Düsenjets, die die Streif vor ausländischen Terrorattacken schützten, vor Rucksackbomberfallschirmspringern und Plastiksprengstoffparaglidern, vor all den Freestylern, die durch den Himmel wirbelten und unvermutet einschlugen.
    Und da waren sie tatsächlich die Jets, die mit ihrer Überschallgeschwindigkeit den Rennläufern unten auf dem Eis vorgaben, wie sie Fahrt aufnehmen sollten und die Schallmauer durchbrechen. Wenn ein Österreicher sich aus einer Raumkapsel in die Atmosphäre stürzen könnte, warum nicht mit dem gleichen Todesmut in die Mausefalle?
    Als Ödön an der Unfallstelle war, überkamen ihn Tränen, er schüttelte sich vor Schluchzen, sein Körper zuckte, er konnte nicht mehr. Im Schnee lag ein Krokodilskostüm ohne Kopf, ein Tigerkostüm, dessen Kopf halb abgetrennt war und das im Hals ein Loch hatte. Ödön suchte nach Blut, aber es war kein Blut zu finden, nur die Spuren der Rettung, der Hilfe, die hoffentlich nicht zu spät gekommen war. Und während er stand und versuchte, wieder die Kontrolle über sich zu bekommen, jagte der nächste Raser über seine Ski und hätte ihn um ein Haar gerammt. Hätte er seinen Kopf nur etwas nach vorn geneigt, er hätte ihn abrasiert. Ödön wollte ihm nach, ihn sich schnappen, aber im letzten Moment hielt er inne. Er schien ein herausragender Fahrer zu sein, nahm immer mehr Speed auf und verschwand plötzlich in den Wald. Ödön könnte ihn nicht einholen. Und wenn er ihn einholte, was dann? Was würde er dann machen? Ihn zusammenscheißen, anschreien, ihn anzeigen, ihm die Faust ins Gesicht schlagen, ihn anspucken, einen Tumult erzeugen, ein Geschrei, einen Auflauf. Es war ihm nichts passiert, warum wegen eines solchen Idioten nun alles riskieren, was er minutiös vorbereitet hatte. War der Krokodilskopf im Helikopter? Würden sie ihn mit in die Notaufnahme nehmen, mit dem Bett durch die Gänge rasen, umklammerte das Kind ihn mit der kleinen Hand und ließ ihn nicht mehr los? Vielleicht hatte es sich nur das Bein gebrochen. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm, redete er sich ein, ein paar blaue Flecken. Leichenflecken, durchschoss es ihn, und wieder kamen ihm die Tränen. Er fasste sich. Er hatte doch ein Ziel. Er musste zur Kapelle, er musste rechtzeitig dort sein. Wenn er seinen Zeitplan nicht einhielt, riskierte er alles. Er blickte auf sein Handy, den Livestream.
    Das wäre die Ironie der Geschichte, dachte er sich, wenn er sich jetzt den Arm brechen würde, wenn er einen Unfall hätte, wenn ihn jemand rammen, in ihn hineinfahren würde, sein Herz aufspießen, die Skispitzen durch den Kehlkopf fräsen, wenn ihm jemand die Innereien zerfetzen und ihm schlicht das Kreuzband riss, weil er ausweichen musste, eine falsche Drehung. Es brauchte ja niemanden, er konnte es selbst einfädeln, ein unkonzentrierter Moment, eine Bodenwelle, ein Loch, ein Stück Eis unter der Schneedecke. Sein Vater hatte ihm immer Hals- und Beinbruch gewünscht, und er hatte Skiheil geantwortet und beide hatten sie mit einer Wut im Bauch dabei gelacht.
    Ödön wischte sich die Tränen aus den Augen, setzte die Brille wieder auf, die fremde Farbe und er fuhr so, als fahre er einem Skilehrer hinterher, Schwung für Schwung. In Schönheit sterben, dachte er, und verkantete.

11
    Huller stellte sich vor, wie in den voll gestopften Hütten Panik ausbrach, Eltern ihre Kinder suchten, hysterische Mütter, schreiende Väter, Skilehrer, die mit Blicken an die Wand neben den Gekreuzigten genagelt werden, Massenfluchten, jeder will zahlen, mault, schimpft, und die ihre Kinder noch nicht gefunden haben, weil sie im Schnee spielen, weil sie sich verstecken, unter der Treppe, in der Toilette, weil sie Versteck spielen, weil sie im Schuppen den Atem anhalten, hinter dem Skido kauern mit frierenden Fingern, weil sie allein mit den andern fahren, sie fahren ja immer den Hang, Familienabfahrt, was soll schon passieren?
    Skikurse werden unterbrochen, Väter beschimpfen Skilehrer, russische Gäste, Amerikaner, Italiener, alle, die kein Deutsch verstehen, stehen da und verstehen nichts, spüren, etwas ist passiert, fragen nach, kommen nicht durch. Und die anderen, die weitersaufen, Champagner
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