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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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sich machen ließ, was er sie machen ließ.
    Und er wollte es, er wollte sich zurück nach oben kämpfen, wollte sie zureiten, sie tief in die Kissen drücken, sie auf der Kellertreppe, in der Sauna nehmen, sie schwitzen sehen, außer Atem, wollte ihr die Luft abdrücken, an die Grenze gehen, nicht länger Angst vor ihr haben, wollte sie brutal befriedigen, um wieder zärtlich sein zu können, wollte all die Gewalt in sich, die er für sie empfand, all die Worte, all die Worte, mit denen sie ihn durch den Fleischwolf drehte, hinauswuchten. Nie hätte er ihr weh tun können, wollen, er verabscheute jede Gewalt, jede körperliche Gewalt, noch viel mehr aber die mentale, mit der sie ihn quälte, erniedrigte. Aber er spürte, dass es nicht Hass war, nicht Rache, nicht Langeweile, nicht Überdruss, nicht Perversion, sie unternahm eine Expedition tief in seine Seelenlandschaft wie ins Herz der Finsternis, die Flüsse hinunter, wo es dunkel und dunkler wurde, die Blätter dichter, der Dschungel undurchdringlicher. Sie vermutete dort, wo es nicht mehr weiterging, dort, wo keiner ein Licht erwartete, war eine Lichtung, dort war der, den sie liebte, den sie vom ersten Augenblick an geliebt hatte, den sie immer noch liebte, begehrte, den sie aber immer weniger spürte, weil er sich immer stärker verschloss, alles zuwuchs, verschattete.
    Sie musste immer heftiger zuschlagen, um sich einen Weg zu bahnen durch dieses Dickicht hinter der Naivität seiner zur Schau gestellten Liebe. Sie lebte mit seinen Masken, sie hatte ein Kind mit seiner Maske, aber sie liebte sein Gesicht, sie suchte es, sie war unerträglich, weil sie keine Sekunde länger ertragen konnte, dass sie zu zweifeln begann, dass ihr Gefühl sie getäuscht hätte, ihr Instinkt sie verlassen und sie jetzt ihn zurücklassen müsste, wie eine Niederlage, eine unnötige Niederlage, die einen fast das Leben, aber zumindest ein bitteres Stück des süßen Lebens gekostet hatte, das nach Tod schmeckte im Nachhinein, als hätte sie eine Liebe geschändet, die sie wie einen Leichnam aufgebahrt hatte, aber wie einen Lebendigen ansprach.
    Nein, sie wollte das nicht glauben. Er hatte sie schon so viel Kraft gekostet. Sie hatte ihn schon so viel Kraft gekostet. Sie betrog ihn, aber es war für sie ein Betrug wie Doping, sie ließ sich das fremde Sperma einspritzen, damit sie diesen Berg überwinden konnte, vor dem sie jeden Morgen stand, ein unerlaubtes Hilfsmittel, das sie sich erlaubte, um nicht die Ausdauer, den Punch, den Tritt zu verlieren.
    Sie hatte nicht schwanger werden wollen, sie hatte kein Kind gewollt, noch nicht. Es verwirrte sie, was war von ihm in Igor? Welcher Teil? Die Wahrheit? Christoph hatte Angst, dass sie ihn verlassen könnte, dass sie den Jungen nähme und nicht einmal einen Zettel zurückließe, nur den Teddybär mit dem roten Tuch um den Hals auf dem Bett, das Haus ist leer, ihre Schränke leer, der Badezimmerschrank leer, der Kühlschrank leer, kein Ton, Stille, eine Chloroformstille, er läuft durch das Haus und findet niemand, niemand nirgends, keine Spur, nur den Teddy und seine feuchte Nasenspitze von den Tränen Igors.
    Yvonne hatte ihrerseits Angst, dass er mit dem Auto in der Kurve Vollgas gibt und sie den Berg hinunterstürzen, in einem Flammenball mitten im Schnee verbrennen, nichts als eine Rauchwolke, eine schwarze Rauchwolke, die bis zum Wilden Kaiser zieht, die ihre Freundin Petra und auch alle beim Skifahren sehen, eine Wolke, die immer schwärzer, immer größer wird, von der Panoramaalm, vom Maierl, vom Sonnbühel, von der Kitzalm, von überallher sehen sie die Wolke, eine Sonnenfinsternis mitten am Tag.
    Und dann fällt Asche, ihre Asche wie Schnee auf die Pisten, kalte Asche, feuchte Asche, Eissplitterasche, dicke Asche, auf die Gesichter, in die Gläser, auf die Schnitzel, die Pommes der Kinder, schwarze Pommes, in die Champagnerkübel, die Asche treibt auf den Eiswürfeln, Asche auf dem Pulverschnee, und die Skifahrer versinken in ihr, eine Aschelawine löst sich und rast auf die Terrassen zu, reißt die Menschen aus den Liften – und dann ist alles vorbei, die Asche zieht sich zurück, der Film läuft rückwärts, die Asche wird zurückgestopft in das brennende Auto, das immer noch brennt.
    Sie hat das hier geträumt, in den Bergen träumte sie stets schlecht, schlief schlecht, wachte schwitzend auf, war schlecht gelaunt, wenn sie in der Früh von Igor geweckt wurde, lass mich schlafen, ich bring dich um, aufstehen, Mami
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