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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Autoren: Albert Ostermaier
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amerikanisieren, was sie hier machten, wenn sie ihrer kleinen Welt Anglizismen injizierten, um sie aufzublasen. Bonnie. Warum ausgerechnet Bonnie? Weil sie Klaid hieß, Brigitte Klaid, Bonnie und Klaid, Bonnie wegen Klaid. Das Verbrecherpaar. Sie war Bonnie und Clyde. Als hätte sie nicht schon genügend Probleme damit, Brigitte zu sein. Zumindest hatten sie sie nicht Blondie getauft oder Gilbert & George. Das blonde Fallbeil, die kühle Wasserstoffblonde, die hysterische Piefke, die Dramaqueen-of-the-stoneage, die cholerische Ninja, die Tränensuse, die zerbrechliche Amokdeutsche, die Unberechenbare, die man immer auf der Rechnung haben musste. Bonnie, die doppelt sah, wenn die anderen wieder zuerst nur ein und dann alle Augen zudrückten. Wenn sie ein Auge zudrückte, dann war es ein totes Auge. Sie kannte kein Erbarmen, Erbarmen fand sie erbärmlich, diese Weicheierschlürfer und Warmduschervorhänge, die sie zur Seite schob. Wenn sie etwas zu erledigen hatte, erledigte sie jeden, der sie dabei aufhalten wollte, der es wagte, sich ihr in den Weg zu stellen.
    Es gab nur Abende, da kannte sie sich nicht mehr, erkannte sich nicht im Spiegel, nicht in ihrem Bild von sich selbst, nicht in ihrem Beruf, wollte sie die Haut über den Kopf streifen wie die ganzen Kleider, die schon über dem Boden verstreut lagen. Ab und zu musste sie aus dieser Haut und diesen Häuten fahren, die Kontrolle über sich verlieren, aufdrehen, durchdrehen, abdrehen, bis ihr Ich den Drehwurm hatte, bis sie sich im Walzertakt oder in einer muskulösen Umklammerung drehte. Sie holte sich, was sie brauchte, aber bei ihr war nicht mehr zu holen als die Illusion, sie verführt, abgeschleppt, aufs Bett geworfen zu haben, sie auf den Rücksitzen genommen, sie im Aufzug gegen den Spiegel gefickt zu haben, sie völlig im Griff zu haben, während allein sie alles im Griff hatte, selbst wenn sie alles los und laufen ließ. Ihr Unterbewusstsein hatte einen Autopiloten, der sie aus der Nacht flog, aus den Stürmen und Gewittern, eine Special Task Force, die ihre Fluchtbewegungen automatisierte und zur Not einem Typen in die Eier trat, ihm den Arm auf den Rücken bog und ihm ihren Stiletto zum Lutschen gab. Sie gab sich die Kante, aber es war nicht sie, die über die Bettkante kippte. Sie vergiftete ihren Körper mit Alkohol und ihr Körper giftete zurück. Natürlich konnte und wollte sie nicht in Kitzbühel so über die Stränge schlagen, sondern fuhr so weit, bis man und sie selbst sie nicht mehr kannte. Die Strecke wurde von Mal zu Mal länger und die Folgen ebenso. Nach ihren Ausbrüchen war sie die Tage danach nicht wiederzuerkennen. Aber natürlich musste nur sie, nicht aber ihre Arbeit darunter leiden. Das war ihre eiserne Regel.
    Auf sie war Verlass, aber sie selbst fühlte sich allein gelassen, mit Clyde, den sie nur in sich, aber nicht in ihrem Leben fand, den Mann, der zu ihr passte und kein Schatten auf ihrem Röntgenbild war. Sie war hier schon richtig. Sie liebte die Tiroler, aber sie hatte noch keinen Tiroler gefunden, den sie lieben musste und der sie nicht wie ein Paar neue Ski für eine Saison anschnallte, bis beim ersten Sturz die Bindung aufsprang und sie im Schnee zurückblieb.
    »Bonnie, was ist? Hallo?« Er wischte mit der Hand vor ihren Augen und übersah den unterdrückten Reflex ihrer Hand, ihm mit der Kante ins Gesicht zu schlagen. »Redest du nicht mehr mit mir?«, fuhr er fort und schien zu genießen, dass er die Oberhand hatte, er gerade heute wacher war, er die erste Geige spielen würde, sie im Hintergrund stünde, weil sie den Schatten suchte, den Windschatten seiner Schultern, weil sie wieder Stimmen hörte und die Stimmen sich mit denen da draußen überlagerten, die Schreie, Sprüche, das Grölen, das Flüstern ihres Headsets, die Mikrofone, Sänger, DJ s, Schlachtensänger, die Ordner. Er kannte sie, alle Stimmen kamen ihr zu nah, standen in ihren Gehörgängen wie vor einem Lift, einem alten Lift, der immer nur zwei nach oben schnauft, während die Schlange immer länger wird.
    »Schau mal, was da draußen los ist! Magst du dich abknallen lassen, weil du schlafwandelst?« Bonnie ignorierte ihren Partner. Alle würde sie heute ausblenden, es ist ein Albtraum, kein Alpentraum, ich schlafwandle, alles wird gut, tief atmen, ich bin ganz allein auf der Welt. Sie schlug die Beifahrertür zu, zog die Skimaske aus ihrer Tasche und ging in aufreizender Langsamkeit die Betonrampe hoch zum Hoteleingang, wo der Bewegungsmelder die
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