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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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gestellt, um den äußeren Schein zu wahren. In manchen Fällen rief dieses Verhalten seiner Lächerlichkeit wegen Monks Verachtung hervor. In anderen empfand er ein seltsames, schmerzliches Mitleid für diese Menschen, die glaubten, an Äußerlichkeiten festhalten zu müssen, um die Wertschätzung ihrer Freunde nicht zu verlieren.
    Er stand in dem kleinen, ordentlichen Zimmer, in dem das Mädchen ihn allein gelassen hatte, und sah sich um. Dem Auge bot sich jede Art von Luxus und gutem Geschmack. Das Zimmer war ein wenig überladen, was durchaus der Mode entsprach, aber trotz der Kälte draußen brannte kein Feuer.
    Die Möbel waren solide, die Sitzpolster von guter Qualität und, soweit er sehen konnte, auch nicht übermäßig abgenutzt. Die Sesselschoner nahm er noch genauer in Augenschein, aber sie waren sauber und weder verblichen noch abgenutzt. Die Gasglühlampen an den Wänden sahen tadellos sauber aus, die Vorhänge zeigten auch in den Falten makelloses Weiß. Der rot und cremefarbene türkische Teppich war zwischen Tür und Kamin nur ganz leicht abgetreten. An den Wänden gab es keine helleren Flecken, die darauf hätten schließen lassen, daß irgendwelche Bilder verschwunden waren. Das feine Porzellan und die gläsernen Dekorationsstücke waren nicht angeschlagen, und er konnte auch keine sorgfältig gekitteten Haarrisse entdecken. Alles war von guter Qualität und sehr persönlichem Geschmack. Es bestätigte aufs neue den Eindruck, den er sich bereits von Genevieve Stonefield gemacht hatte.
    Er wollte sich gerade die Titel der Bücher im Eichenschrank vornehmen, als das Zimmermädchen zurückkehrte, um ihn in den Salon zu geleiten.
    Er hatte ursprünglich auch eine diskrete Taxierung dieses Raums beabsichtigt, aber sobald er eingetreten war, galt seine ganze Aufmerksamkeit nur noch Genevieve Stonefield selbst. Sie trug ein graublaues Kleid, dessen Röcke mit etwas dunkleren Samtstreifen eingefaßt waren. Vielleicht war das eine naheliegende Wahl für eine Frau wie sie, mit ihrem schönen Teint und dem vollen Haar, aber es war trotzdem außergewöhnlich schmeichelhaft. Sie war nicht auf klassische Weise schön und verfügte eindeutig nicht über die Blässe und die kindliche Zierlichkeit, die gegenwärtig in Mode waren. Sie hatte etwas Erdverbundenes, Spontanes, ganz so, als wäre sie unter anderen Bedingungen ein Mensch voller Fröhlichkeit und Phantasie, ja mit einem Hunger nach Leben. Ihre Gesichtszüge verrieten eine Frau, die, was immer sie auch tat, mit ganzem Herzen bei der Sache war.
    Monk konnte sich nicht vorstellen, was für eine Art Mann Angus Stonefield sein mußte, um zunächst ihre Liebe gewonnen und sie dann freiwillig verlassen zu haben. Die Möglichkeit, daß er es mit einem Feigling zu tun haben könnte oder einem Mann, der sich vom Leben zurückzog, konnte er damit wohl ausschließen.
    Das Zimmer und die Möbel traten völlig in den Hintergrund.
    »Mr. Monk«, sagte sie angespannt. »Bitte, so nehmen Sie doch Platz. Vielen Dank, Janet.« Sie hob eine Hand, um das Mädchen zu entlassen. »Falls noch jemand vorbeikommt, ich bin nicht zu Hause.«
    »Sehr wohl, Ma'am.« Janet ging gehorsam hinaus und schloß die Tür hinter sich.
    Sobald sie allein waren, drehte Genevieve sich zu Monk um und begriff dann offensichtlich, daß es noch viel zu früh war, um irgend etwas in Erfahrung gebracht zu haben. Sie versuchte ihre Enttäuschung und ihre Torheit, daß sie sich überhaupt Hoffnungen gemacht hatte, zu verbergen.
    Er wollte ihr sagen, daß sein ursprünglicher Verdacht ihm immer unwahrscheinlicher erschien, aber dann hätte er ihr auch erklären müssen, worauf sein Verdacht sich jetzt gründete, und das hätte ihm zutiefst widerstrebt.
    »Ich war in Mr. Stonefields Geschäftsräumen«, begann er.
    »Zwar nur ganz kurz, aber ich konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Ich werde zurückkehren, wenn Mr. Arbuthnot anwesend ist, und sehen, ob er mir mehr berichten kann.«
    »Ich bezweifle, daß Sie von ihm irgend etwas erfahren werden«, sagte sie traurig. »Der arme Mr. Arbuthnot ist genauso verwirrt wie ich. Natürlich weiß er von Caleb nicht, was ich weiß.« Ihr Mund wurde schmal, und sie wandte sich halb von Monk ab, um in das sehr schwache Feuer zu blicken, das im Kamin glomm. »Das ist etwas, das ich lieber nicht der Öffentlichkeit preisgeben möchte, es sei denn, es bliebe mir wirklich nichts anderes übrig. Niemand möchte die Tragödien der eigenen Familie vor aller Augen
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