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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht
Autoren: Brigitte Aubert
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sind.«
    Sie bricht in schallendes Gelächter aus, ein gezwungenes Gelächter, das ihren üppigen Busen erbeben lässt, dann tätschelt sie mir den Kopf.
    »Dich hat's wirklich erwischt, was, mein Häschen? Komm, ich lade dich zu einem Doppelten ein.«
    Sie serviert uns zwei ordentliche Whiskys. Ich schiele auf ihre Zigaretten, sie bemerkt es und bietet mir eine an. Ich inhaliere den Rauch tief. Das tut gut.
    »Mossa war vorhin hier«, fährt sie fort. »Er hat mir Fragen über dich gestellt.«
    »Welcher Art?«
    »Ob du im Haus wohnst, mit wem du Kontakt hast, solche Sachen .«
    »Und?«
    »Und nichts.«
    Schweigend leeren wir unsere Gläser. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich Mossa und Linda vor einem dampfenden Espresso Sorgen um mich machen. Ich habe Linda gern, aber sie ist anstrengend. Wenn ich mir eine Mutter vorstellen müsste, wenn man mir sagen würde: Los, Bo, such dir eine Mutter aus, natürlich nicht in der Luxusabteilung, aber eine starke, vernünftige Person … ich glaube, dann würde ich jemanden wie sie wählen.
    Neue Gäste kommen herein, und sie geht hinter ihre Theke zurück. Als ich aus meinem Appartement musste, hat sie mir angeboten, meine Sachen über der Bar in einer Mansarde im fünften Stock unterzustellen. Sie weiß, was es bedeutet, auf der Straße zu stehen. Im Alter von zehn Jahren hat sie ihre Eltern und ihren Bruder zum letzten Mal gesehen - als sie in den Wagen der Gestapo stiegen. Sie kam vom Brotholen zurück und war hinter einer Hoftür versteckt, als sie abfuhren. Den Rest des Krieges verbrachte sie in einem benachbarten Pensionat, wo ihr die Nonnen eine Taufbescheinigung ausgestellt haben.
    Ich wäre gerne von Nonnen erzogen worden, mit dem Geruch von Bohnerwachs und frisch gebügelten Laken groß geworden; im dunkelblauen Rock, mit meinen Freundinnen tuschelnd, zur Kapelle gegangen. Wir hätten albern gekichert und die Augen beim Anblick der Jungen niedergeschlagen. Vor allem hätte ich gerne beobachtet, wie mein Vater in einen Gestapowagen steigt.
    »Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie direkt nach Auschwitz fahren?«, hätte ich den schönen Nazioffizier gefragt.
    »Natürlich, mach dir keine Sorgen, kleines Gretchen«, hätte er mir geantwortet und mich an das raue Tuch seiner Uniform gezogen .
    Träumen wird man ja wohl noch dürfen.
    Die Mansarde ist einfach. Es gibt ein kleines Waschbecken, ein Bett und eine Dachluke. Mir gefällt das. Ich wasche mir die Hände, das Gesicht, den Mund. Kein ausgeschlagener Zahn. Das Zahnfleisch blutet, aber, gut, das geht schnell vorbei. Ich betupfe meine Wunden mit Desinfektionsmittel. Ich bürste mein Haar und verberge meine blau geschwollene Schläfe unter den Locken. Es stimmt, ich bin zu mager. Der hässliche Adamsapfel hüpft an meinem Hals. Das schmutzige, zerrissene T-Shirt ist viel zu weit und schlottert um meine hervorstehenden Rippen. Das liegt daran, dass ich keinen Hunger mehr habe. Bei der Vorstellung, zu essen, überkommt mich Übelkeit. Es ist, als wäre meine ganze Energie, mein ganzes Verlangen auf ein einziges Ziel gerichtet: Johnny. Linda hat Recht, ich muss zur Ruhe kommen. Ich brauche Arbeit in einer Show. Ich will nicht länger an der Tankstelle anschaffen gehen. Ich will tanzen, mich schön und begehrenswert fühlen. Ich will eine Frau sein. Eine Frau für Johnny.
    Nein, Bo, eine andere Platte! Sieh dir die blauen Flecke an: Hier, da, überall. Und die schmerzenden Rippen. Sieh dir die aufgeplatzte Haut am Schienbein an. Gefällt dir das, du dumme Pute?
    Ehrlich gesagt, es ist mir völlig gleichgültig.
    Plötzlich fällt mir ein, dass Dienstag ist und ich zur Polizeiwache muss. Schon Dienstag? Ich schminke mich nicht und tausche mein T-Shirt gegen einen giftgrünen Pullover von Kookai, wechsle die Jeans, ziehe meine Dokkers an und gehe nach unten.
    Dort trinke ich meinen Whisky aus und sehe auf die alte Schlaguhr über der Theke: 8.45 Uhr am Faschingsdienstag.
    »Welcher Tag ist heute, Linda?«
    »Dienstag«, bestätigt sie, während sie ein Bier für den Schlosser von nebenan zapft. »Musst du nicht deinen Besuch machen?«
    »Ja, ich gehe schon. Tschüs.«
    »Ciao, mein Liebes«, ruft sie mir unter dem erstaunten Blick des Schlossers mit dem schaumgekrönten Schnauzer nach.

KAPITEL 2
    Draußen nieselt es. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu. Letzte Woche hatte ich noch einen superschönen Mohairpullover, aber ich weiß nicht, wo er ist. Alle zwei Wochen muss ich mich bei meinem Bewährungshelfer
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