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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht
Autoren: Brigitte Aubert
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Bewegung, folge der gelben Linie auf dem Boden. Sie führt mich zu gläsernen Schiebetüren. Als ich mein Spiegelbild betrachte, stelle ich fest, dass ich Glück hatte: kein blaues Auge. Sie haben auf der Herzseite zugeschlagen - linke Augenbraue aufgeplatzt, großes Hämatom an der Schläfe, Unterlippe aufgesprungen. Der Boxer nach der Niederlage. Ich trete einen Schritt zurück, um mich ganz zu begutachten.
    Ich bin achtundzwanzig fahre alt. Ich heiße Bo. Mein volles dunkles Haar fällt in Locken bis zur Taille. Ich bin klein und schlank. Ich sehe aus wie ein Mädchen. Und ich liebe Johnny. Aber Johnny liebt mich nicht. Er liebt Mädchen, die nicht nur aussehen wie Mädchen.
    Ich spucke mein Spiegelbild an und wende mich ab. Aus einer Mülltonne ragt ein Pizzakarton. Ich finde eine Serviette und wische mir das Blut vom Gesicht. Vielleicht ist Johnny zu Hause und schläft? Vielleicht hat er zu viel Stoff genommen und ist krank? Vielleicht darf ich ihm einen Kaffee kochen?
    Ich gehe in Richtung Bushaltestelle, als neben mir ein Wagen bremst. Ich drehe mich nicht um. Quietschend gleitet die elektrisch betriebene Scheibe nach unten. Ohne zu laufen, beschleunige ich den Schritt. Eine Stimme ruft mir zu:
    »He! Wohin gehst du, Bo?«
    Mossa. Ich gehe weiter. Mossa lehnt sich aus dem Wagenfenster.
    »Sag mal, Bo, bist du taub? Soll ich dir den Pfropf aus den Ohren holen?«
    Seufzend bleibe ich stehen. Verfluchter Bulle! Er schaltet den Motor des GTI 205 aus, klettert aus dem Auto und klappt sein zwei Meter langes Gestell aus. Mit hoch gezogenen Augenbrauen mustert er mich von oben bis unten.
    »Wohl unter die Frühaufsteher gegangen, was, Bo? Und in Topform, wie ich sehe. Ein richtiges Mädchen …«
    Ich antworte nicht. Der baumlange Kerl in seinem Denis-Rodman-Look pflanzt sich vor mir auf. Er knackt mit den braunen Fingern, fährt sich durch das gebleichte Bürstenhaar und gähnt.
    »Ich habe den Eindruck, du hattest eine schlechte Nacht. Willst du dem lieben Onkel Mossa nicht erzählen, was passiert ist?«
    Ich brumme:
    »Alles in Ordnung, Inspektor.«
    »Kommissar«, verbessert er mich. »Du weißt doch, dass bei uns alles modernisiert wurde.«
    »Fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen.«
    »Na ja. Aber was ist dir denn passiert?«
    »Ich war kaputt. Ich erinnere mich nicht. Muss gefallen sein und mich gestoßen haben.«
    »Du meinst wohl, du bist auf Schwulenhasser gestoßen.«
    Er grinst. Ich zucke die Schultern.
    »Du tust mir Leid, Bo. Wirklich Leid. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, stelle ich mir vor, wie ich mich eines Tages im Rinnstein über deine Leiche beugen werde. Du wirst deinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr erleben, Bo.«
    Das ist mir scheißegal. Wenn du wüsstest, wie egal mir das ist. Alles, was ich will, ist Johnny. Nur eine Stunde. Johnny ganz für mich. Johnny in mir. Ich will seine Frau sein, seine Hure, seine Hündin.
    Mossa mustert mich und trommelt dabei gereizt auf seinem Autodach, er scheint besorgt und nervös.
    »Ich habe zwölf Stunden durchgearbeitet, jetzt fahre ich nach Hause«, erklärt er. »Kann ich dich auf einen Kaffee einladen?«
    Ich schüttele den Kopf. Ich muss mich beeilen, wenn ich Johnny noch sehen will, bevor er zur Arbeit geht. Wieder knackt Mossa mit den Fingern und seufzt. Dann steigt er ein und fährt wortlos davon.
    Für einen Bullen von der Sitte ist Mossa eigentlich ganz in Ordnung. Er versucht mit uns in Kontakt zu bleiben: mit den Huren, den Transvestiten, den Süchtigen … Er glaubt, wir lebten in derselben Welt. Er sieht nicht den Abgrund, der uns voneinander trennt, den Riss im Spiegel, der unser Bild zurückwirft.
    Der Bus kommt, ich fange an zu rennen, das tut weh. Ich suche in meinen Taschen nach Geld, der Fahrer macht mir ein Zeichen, ich soll einsteigen, und ich setze mich in den hinteren Teil des Busses. Zu dieser frühen Stunde trifft man nur Leute, die von der Arbeit kommen oder dorthin fahren. Blasse, übernächtigte Gesichter, Gähnen. Man mustert mich aus den Augenwinkeln. Leise, vorsichtige Kommentare: »Ist das ein Mann oder eine Frau?« »Er/Sie hat eine Abreibung bekommen.« »Haben Sie den Transvestiten gesehen …?«
    Transvestit. Ein Transit-Traveller im Transsexuellen-Express, Einwanderer und Auswanderer zugleich. Die Reise geht in einer Fleischkapsel vom Planeten Homo Erectus zum Planeten Bella Donna. Und ich spreche abwechselnd in den beiden Sprachen von Babel mit mir selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, Beaudoin sei der Besitzer
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