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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht
Autoren: Brigitte Aubert
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geschnittene Haar. Ich betrachte die fleckige Matratze, den vergammelten Fußboden, die Schaben, die überall herumkrabbeln, das schmutzige Geschirr, den überquellenden Mülleimer. Und ich betrachte Johnny, der seine Krawatte aus Wildseide knotet und nach seiner ledernen Aktentasche greift. Er baut sich vor mir auf.
    »Was sagt man, Bo?«
    »Danke.«
    »Danke was?«
    »Danke, Johnny.«
    Er ohrfeigt mich mit aller Kraft, so dass ich schwanke.
    »Danke, Jonathan, heißt das. Kapiert?«
    »Danke, Jonathan. Entschuldigung.«
    Er ohrfeigt mich erneut, diesmal kräftiger. Mein Kopf schlägt gegen die verblichene Tapete.
    Er wirft einen Blick auf seine Uhr.
    »Scheiße, ich muss los. Du hast kein Glück, Bo. Ich bin heute Morgen gut in Form, aber ich habe keine Zeit, mich um dich zu kümmern.«
    Er schiebt mich hinaus, schließt die Tür ab und geht die Treppe hinunter. Ich drücke mich an der Wand entlang. Er weiß, dass ich ihm gehöre. Ja, ich bin sein Sklave. Er weiß, dass ich bereit wäre, für ihn zu sterben.
    So ist das eben, es ist nicht meine Schuld. Ich bin ihm hörig. Das wusste ich sofort, als ich ihn zum ersten Mal vor der Disco sah und er mich ansah. Wir kamen gegen fünf Uhr morgens raus. Stephanie war betrunken, und Maeva half mir, sie zu stützen. Sie stolperte, und wir fielen alle drei hin. Ich spürte eine Hand, die mich ergriff und unsanft hochzog. Ich sah auf. Da war er. Wie in dem Lied von Edith Piaf. Ich wusste es sofort. Er musterte mich aufmerksam, dann betrachtete er uns alle drei und schließlich das Namensschild der Disco, und ich las in seinen Augen, dass er verstanden hatte und dass ihn das nicht interessierte. Er ließ mich los, und ich fiel, schlaff wie ein nasser Sack, wieder zu Boden.
    Er will nicht, dass ich ihn liebe.
    Aber ich liebe ihn trotzdem.
    Dieses Schwein Bull steigt mit seiner Croissant-Tüte in der Hand über mich hinweg. Hinterhältig rufe ich ihm nach:
    »Du hast Johnny knapp verpasst.« »Schnauze!«, brummt er, ohne sich umzudrehen.
    Ich gehe runter in die Kneipe an der Ecke, die Linda und Laszlo gehört. Drinnen ist es dämmerig. Alte Männer trinken schweigend, aus dem Radio tönt der Wetterbericht.
    Der Wetterbericht. Mir ist immer kalt oder heiß. Ich erinnere mich nicht mehr, wann es mir je gut ging. Ich möchte rauchen, aber ich habe kein Geld. Diese Idioten haben mir heute Nacht alles geklaut. Die Brille auf der Nasenspitze, liest Laszlo Zeitung, wobei er sich mit der Hand durch das graue Haar fährt. Mit seinen siebzig Jahren misst er sich noch im Armdrücken.
    Linda kommt aus der Küche. Das rote Haar ist zu einem Knoten zusammengefasst. Als sie mich sieht, zieht sie die Augenbrauen hoch.
    »Bist du unter einen Laster gekommen?«
    »Nein, ich hatte Ärger mit ein paar Idioten.«
    »Eines Tages, mein Mädchen, wirst du an eine Bande von Kranken geraten, die dir die Haut abziehen. Glaube mir, Bo, das Geschäft hat sich verändert. Du musst aufhören.«
    »Ich warte, dass man mir wieder eine Show anbietet«, brumme ich.
    Sie beugt sich zu mir. Alles an ihr ist rund, die üppigen Brüste, die rosigen Wangen, der volle rote Mund, die schwarzen Augen, die mich in- und auswendig kennen.
    »Sie nehmen dich nicht mehr, Bo. Nicht in diesem Zustand. Du musst dich pflegen. Du musst wieder zunehmen, dich ausruhen. In den Revues wollen sie keine Reklame für Aids machen.«
    »Ich bin nicht krank. Sie haben dort schon einen Bluttest gemacht.«
    Dort, das war in der weiß-grauen Krankenstation des  Gefängnisses. Während meiner dreijährigen Haft hatte ich Gelegenheit, sie alle besser kennen zu lernen. Seit sechs Monaten bin ich wieder draußen. Kein Job mehr. Kein Geld. Johnny ist wie Krebs. Ich strenge mich an, Linda zuzuhören, die fortfährt:
    »Vielleicht bist du nicht krank, aber du siehst so aus als ob. Die Leute bezahlen, um Transvestiten zu sehen, die im Paillettenstring auf der Bühne tanzen. Glaubst du, dich möchte man noch im Tanga sehen? Seit du dich mit diesem Verrückten abgibst, spinnst du total.«
    »Ich gebe mich nicht mit ihm ab, zwischen uns läuft nichts.«
    Ich trinke meinen Kaffee aus und versuche mich selbst davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage.
    »Der Kerl ist gefährlich, Bo. Hör auf deine alte Linda. Findest du es normal, dass man Armani- oder BossKlamotten trägt und in einem solchen Loch wohnt?«
    »Ja. Das bedeutet nur, dass er einen Job hat, bei dem er gut gekleidet sein muss, dass ihm aber ansonsten materielle Dinge gleichgültig
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