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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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Wasserbüffel unserer Familie hinunter zum Fluss führte. Er ritt auf den breiten Schultern des Tieres, ein Bein untergeschlagen, das andere lag hüpfend auf den Flanken des Büffels. Schöner Mond und ich folgten ihm im Gänsemarsch durch das enge Gassenlabyrinth des Dorfes, dessen verwirrendes Durcheinander uns vor Geistern und Banditen gleichermaßen schützte. Wir sahen keine Erwachsenen – die Männer arbeiteten auf den Feldern, und die Frauen blieben in ihren Gemächern im Obergeschoss hinter den Gitterfenstern -, aber in den Gassen waren noch andere Kinder und die Tiere des Dorfes: Hühner, Enten, fette Schweine und quiekende Ferkel.
    Wir verließen das Dorf und wanderten über einen erhabenen schmalen Pfad, der mit kleinen Steinen gepflastert war. Er war breit genug für Menschen und Sänften, aber zu schmal für Ochsen- oder Ponykarren. Wir folgten dem Pfad hinunter zum Fluss und blieben kurz vor der schwankenden Brücke stehen, die über den Xiao führte. Jenseits der Brücke öffnete sich die Welt vor uns mit weiten Ackerfluren. Der Himmel über uns dehnte sich blau wie die Federn des Eisvogels. Weit in der Ferne
sahen wir noch andere Dörfer – Orte, an die ich, wie ich glaubte, mein ganzes Leben nicht kommen würde. Dann kletterten wir hinunter zum Flussufer, wo der Wind durch das Schilf fuhr. Ich setzte mich auf einen Felsen, zog mir die Schuhe aus und watete durch das seichte Wasser. Mehr als siebzig Jahre sind seither verstrichen, aber ich weiß noch genau, wie sich der Schlamm zwischen meinen Zehen anfühlte, wie mir das Wasser über die Füße rauschte, wie kalt es an meiner Haut war. Schöner Mond und ich waren so frei wie nie mehr in unserem Leben. Aber ich erinnere mich auch noch ganz genau an etwas anderes an diesem Tag. Von der Sekunde an, in der ich aufgewacht war, hatte ich meine Familie mit neuen Augen gesehen, und das hatte mich mit seltsamen Gefühlen erfüllt – mit Melancholie, Traurigkeit, Eifersucht. Vieles kam mir plötzlich ungerecht vor. Aber all das ließ ich vom Wasser fortspülen.
    An diesem Tag setzten wir uns nach dem Abendessen nach draußen, genossen die kühle Abendluft und sahen Baba und Onkel zu, wie sie ihre langen Pfeifen rauchten. Alle waren müde. Mama stillte das Baby ein letztes Mal, in der Hoffnung, es würde einschlafen. Sie sah müde aus von ihren Hausarbeiten, die für sie immer noch nicht beendet waren. Ich legte ihr den Arm um die Schulter, um sie zu trösten.
    »Dafür ist es zu heiß«, sagte sie und schob mich sanft weg.
    Baba muss gesehen haben, wie enttäuscht ich war, denn er nahm mich auf seinen Schoß. In der Stille und Dunkelheit war ich kostbar für ihn. Für diesen Augenblick war ich wie eine Perle in seiner Hand.

FÜSSEBINDEN
     
     
    D ie Vorbereitungen für das Füßebinden dauerten bei mir viel länger, als alle dachten. In den großen Städten werden Mädchen aus vornehmeren Familien die Füße schon im Alter von drei Jahren gebunden. In manchen, weit von uns entfernten Provinzen binden sich die Mädchen nur zeitweise die Füße, damit sie ihrem zukünftigen Ehemann reizvoller erscheinen. Zu dem Zeitpunkt sind die Mädchen dann ungefähr dreizehn. Ihnen werden dabei aber nicht die Knochen gebrochen, und die Bandagen sitzen immer locker. Sobald sie verheiratet sind, werden die Füße wieder befreit, damit die jungen Ehefrauen mit ihren Männern auf dem Feld arbeiten können. Den ärmsten Mädchen werden die Füße gar nicht gebunden. Wir wissen, wie sie einmal enden. Entweder werden sie als Dienerinnen verkauft, oder sie werden »kleine Schwiegertöchter« – großfüßige Mädchen aus glücklosen Familien, die bei anderen Familien aufwachsen, bis sie einmal alt genug sind, um selbst Kinder zu bekommen. Aber in unserem ganz normalen Landkreis beginnen Mädchen aus Familien wie meiner das Füßebinden mit sechs Jahren, und zwei Jahre später gilt es als abgeschlossen.
    Während ich noch draußen mit meinem Bruder herumturnte, hatte meine Mutter bereits damit begonnen, die langen blauen Stoffstreifen zurechtzuschneiden und aufzurollen, die meine Bandagen werden sollten. Mein erstes Paar Schuhe machte sie auch selbst, aber noch mehr Sorgfalt verwendete sie darauf, die Miniaturschuhe zu nähen, die sie auf den Altar der Guanyin legen wollte – der Göttin, die die Tränen aller Frauen
hört. Diese bestickten Schuhe waren nur dreieinhalb Zentimeter lang und bestanden aus einem ganz besonderen Stück roter Seide, das meine Mutter aus ihrer
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