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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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hatten wir nur wenige. Ältere Schwester hatte einen Leberfleck über dem Mund. Dritte Schwester hatte die Haare immer in kleinen Büscheln hochgebunden, weil sie es nicht leiden konnte, wenn Mama sie kämmte. Schöner Mond hatte ein hübsches rundes Gesicht, während ich stramme Beine vom Rennen und kräftige Arme vom Herumtragen meines kleinen Bruders hatte.
    »Mädchen!«, rief Mama über die Treppe zu uns herauf.
    Das genügte, um die anderen zu wecken und uns alle aus dem Bett zu holen. Ältere Schwester zog sich rasch an und ging hinunter. Schöner Mond und ich brauchten etwas länger, weil wir nicht nur uns, sondern auch Dritte Schwester ankleiden mussten. Dann gingen wir zusammen nach unten, wo Tante den Boden fegte, Onkel ein Morgenlied sang, Mama – mit Zweitem Bruder auf dem Rücken – gerade das letzte Wasser zum Kochen in den Teekessel goss und Ältere Schwester Lauchzwiebeln für den Reisbrei schnitt, den wir Congee nennen. Meine Schwester warf mir einen gelassenen Blick zu, den ich so verstand, dass sie an diesem Morgen bereits die Anerkennung meiner Familie bekommen hatte und nun für den Rest des
Tages sicher war. Ich verbarg meinen Groll, ohne zu begreifen, dass ihre vermeintliche Selbstzufriedenheit eher die freudlose Resignation war, die meine Schwester nach ihrer Verheiratung an den Tag legen sollte.
    »Schöner Mond! Lilie! Kommt her! Kommt her!«
    Meine Tante begrüßte uns jeden Morgen so. Wir rannten zu ihr hin. Tante gab Schöner Mond einen Kuss und klopfte mir liebevoll auf den Po. Dann rauschte Onkel herein, nahm Schöner Mond in die Arme und küsste sie. Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, zwinkerte er mir zu und zwickte mich in die Wange.
    Du kennst doch das alte Sprichwort, dass schöne Menschen immer schöne Menschen und begabte Menschen begabte heiraten? An diesem Morgen kam ich zu dem Schluss, dass Onkel und Tante zwei hässliche Menschen waren und deshalb perfekt zusammenpassten. Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, hatte O-Beine, eine Glatze und ein rundes, glänzendes Gesicht. Tante war mollig, und ihre Zähne ragten hervor wie Steinzacken aus einer Karsthöhle. Ihre gebundenen Füße waren nicht sonderlich klein, vielleicht vierzehn Zentimeter lang, also doppelt so groß, wie meine Füße später einmal werden sollten. Böse Zungen in unserem Dorf behaupteten, dies sei der Grund, weshalb Tante – die aus einer gesunden Familie stammte und breite Hüften hatte – nie einen Sohn austragen konnte. Solche Vorwürfe hörte ich zu Hause nie, nicht einmal von Onkel. Für meine Begriffe führten sie eine ideale Ehe: Er war eine liebevolle Ratte, und sie war ein pflichtbewusster Ochse. Tag für Tag sorgten sie für Glück in unserem Heim.
    Meine Mutter hingegen hatte sich bis jetzt noch nicht anmerken lassen, dass sie meine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte. Das war so, seit ich denken konnte, aber an diesem Tag spürte ich ihre Missachtung deutlich. Ich wurde ganz melancholisch, und die Freude, die ich eben noch mit Tante
und Onkel empfunden hatte, war zu meiner Verblüffung sofort wie weggeblasen. Doch gleich darauf verschwand dieses Gefühl so schnell, wie es gekommen war, denn Älterer Bruder, der sechs Jahre älter war als ich, rief mich, damit ich ihm bei seinen morgendlichen Pflichten half. Da ich im Jahr des Pferdes geboren wurde, bin ich natürlich immer gerne im Freien, aber noch wichtiger war mir, dass ich Älteren Bruder ganz für mich allein haben konnte. Ich wusste, dass ich mich glücklich schätzen durfte und meine Schwestern mir das übel nehmen würden, doch das war mir egal. Wenn er mit mir redete oder mich anlächelte, dann fühlte ich mich nicht unsichtbar.
    Wir rannten nach draußen. Älterer Bruder zog Wasser aus dem Brunnen hoch und füllte unsere Eimer. Wir trugen sie zurück ins Haus und machten uns gleich wieder auf, um Feuerholz zu sammeln. Wir legten alles auf einen Haufen, dann lud mir Älterer Bruder die Arme mit kleineren Ästen voll. Er nahm den Rest, und wir machten uns auf den Heimweg. Zu Hause reichte ich Mama die Stöcke, in der Hoffnung, sie würde mich loben. Immerhin ist es gar nicht so einfach für ein kleines Mädchen, einen Wassereimer zu schleppen oder Feuerholz zu tragen. Aber Mama sagte gar nichts.
    Noch heute, nach so langer Zeit, fällt es mir schwer, an Mama zu denken und an das, was ich an diesem Tag begriff. Mir wurde damals ganz deutlich bewusst, dass ich ihr unwichtig war. Ich war ein drittes Kind, ein zweites
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