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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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alle aus Puwei, sie konnten sich also häufig treffen und nicht nur an besonderen Tagen der Zusammenkunft, wie dem Fest der kühlen Brise oder dem Vogelfest. Der Schwesternbund war gebildet worden, als die Mädchen sieben wurden. Um die Verbindung zu besiegeln, hatte jeder Vater fünfundzwanzig jin Reis spendiert, der in unserem Haus aufbewahrt wurde. Wenn eines der Mädchen einmal heiratete, würde ihre Portion Reis verkauft werden, damit ihre Schwurschwestern Geschenke für sie kaufen konnten. Das letzte bisschen Reis würde zur Hochzeit der letzten Schwurschwester verkauft werden. Dieses Ereignis markierte dann das Ende des Schwesternbunds, denn wenn die Mädchen alle in entfernte Dörfer geheiratet hatten, würden sie zu beschäftigt damit sein, sich um ihre Kinder zu kümmern und ihren Schwiegermüttern zu gehorchen, um noch Zeit für alte Freundschaften zu haben.
    Nicht einmal bei ihren Freundinnen versuchte Ältere Schwester, sich hervorzutun. Sie saß friedlich bei den anderen Mädchen, während sie stickten und einander lustige Geschichten erzählten. Wenn sie zu laut plapperten oder kicherten, mahnte meine Mutter sie streng zur Ruhe, und da fiel mir schon wieder etwas auf: Mama tat das nie, wenn die Altersschwurschwestern meiner Großmutter zu Besuch kamen. Nachdem ihre Kinder erwachsen waren, war Großmutter eingeladen worden, sich einer neuen Gruppe von fünf Schwurschwestern in Puwei anzuschließen. Außer meiner Großmutter lebten nur noch zwei von ihnen. Sie waren allesamt Witwen und besuchten einander mindestens einmal pro Woche. Sie brachten sich gegenseitig zum Lachen und tauschten derbe Späße aus, die wir Mädchen nicht verstanden. Bei diesen Treffen hatte Mama zu viel Angst vor ihrer Schwiegermutter, um sie zu bitten, leiser zu sein. Vielleicht war sie auch zu beschäftigt.

    Mama ging das Garn aus, und sie stand auf, um sich Nachschub zu holen. Einen Augenblick lang stand sie ganz still da und starrte gedankenvoll ins Leere. Ich verspürte den beinahe übermächtigen Wunsch, mich in ihre Arme zu werfen und zu rufen: »Sieh mich an! Sieh mich doch an! Sieh mich an!« Aber ich tat es nicht. Die Mutter von Mama hatte Mama die Füße schlecht eingebunden. Statt goldener Lilien hatte sie hässliche Stümpfe. Statt mit wiegenden Schritten zu gehen, stützte sie sich auf einen Stock. Wenn sie den Stock weglegte, suchte sie mit Armen und Beinen Halt, um das Gleichgewicht zu bewahren. Mama stand zu wackelig auf den Beinen, als dass man sie je hätte umarmen oder küssen können.
    »Ist es nicht Zeit für Schöner Mond und Lilie, nach draußen zu gehen?«, fragte Tante und weckte meine Mutter aus ihrem Tagtraum. »Sie könnten Älterem Bruder bei seiner Arbeit helfen.«
    »Er braucht ihre Hilfe nicht.«
    »Ich weiß«, gab Tante zu, »aber es ist so ein schöner Tag …«
    »Nein«, sagte Mama streng. »Ich mag es nicht, dass die Mädchen durchs Dorf ziehen, wenn sie hier ihre Handarbeiten lernen sollen.«
    Doch in dieser einen Hinsicht war meine Tante stur. Sie wollte, dass wir uns im Ort auskannten, dass wir sahen, was jenseits lag, dass wir an den Rand unseres Dorfes gingen und in die Ferne blickten, denn sie wusste, dass wir bald nur noch das zu Gesicht bekamen, was wir durch das Gitterfenster des Frauengemachs erblicken konnten.
    »Sie haben doch nur diese paar Monate«, redete sie meiner Mutter gut zu. Sie sprach nicht aus, dass uns bald die Füße gebunden werden würden, die Knochen gebrochen, die Haut faulen würde. »Lass sie laufen, solange sie es noch können.«
    Meine Mutter war erschöpft. Sie hatte fünf Kinder, und drei von uns waren fünf und jünger. Sie war allein verantwortlich
für den Haushalt – sie putzte, wusch, flickte, kochte alle Mahlzeiten und kümmerte sich um die Rechnungen, so gut es ging. Sie hatte einen höheren Status im Haushalt als Tante, aber sie konnte nicht jeden Tag durchsetzen, was sie als angemessenes Benehmen betrachtete.
    »Na gut«, seufzte Mama resigniert. »Sie können gehen.«
    Ich nahm Schöner Mond an der Hand, und wir sprangen auf und ab. Tante scheuchte uns rasch zur Tür, bevor meine Mutter ihre Meinung ändern konnte, während Ältere Schwester und ihre Schwurschwestern uns wehmütig nachblickten. Meine Cousine und ich rannten die Treppe hinunter und hinaus. Der Spätnachmittag war mir die liebste Zeit des Tages, wenn die Luft warm war und duftete und die Zikaden summten. Wir liefen die Gasse entlang, bis wir meinen Bruder fanden, der den
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