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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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Mitgift aufgehoben hatte. Sie waren der erste kleine Hinweis darauf, dass meiner Mutter doch etwas an mir liegen mochte.
    Als Schöner Mond und ich sechs wurden, schickten Mama und Tante nach dem Wahrsager, um ein günstiges Datum für den Beginn des Einbindens zu finden. Es heißt, der Herbst sei die beste Zeit dafür, aber nur weil der Winter bevorsteht und das kalte Wetter die Füße ein wenig betäubt. Ob ich aufgeregt war? Nein. Ich hatte Angst. Ich war zu jung, um mich zu erinnern, wie es bei Älterer Schwester am Anfang gewesen war, aber wer in unserem Dorf hatte nicht gehört, wie die kleine Wu ein paar Häuser weiter geschrien hatte?
    Meine Mutter begrüßte unten den Wahrsager Hu, schenkte ihm Tee ein und bot ihm ein Schälchen mit Wassermelonenkernen an. Ihre Höflichkeit sollte für gute Prophezeiungen sorgen. Er fing mit mir an. Zuerst nahm er mein Geburtsdatum und ging alle Möglichkeiten durch. Dann sagte er: »Ich muss dieses Kind mit eigenen Augen sehen.« Das war ungewöhnlich, und als meine Mutter mich holen ging, stand ihr die Sorge ins Gesicht geschrieben. Sie führte mich zu dem Wahrsager und stellte mich vor ihn hin. Ihre Finger gruben sich mir in die Schultern. So musste ich stillhalten und war gleichzeitig eingeschüchtert, während der Wahrsager mit seiner Untersuchung begann.
    »Augen, ja. Ohren, ja. Dieser Mund.« Er blickte zu meiner Mutter auf. »Das ist kein gewöhnliches Kind.«
    Meine Mutter sog Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein. Etwas Schlimmeres hätte der Wahrsager nicht verkünden können.
    »Da sind noch weitere Gespräche vonnöten«, sagte der Wahrsager. »Ich schlage vor, wir ziehen eine Heiratsvermittlerin zu Rate. Seid Ihr einverstanden?«

    Manche Leute hätten vielleicht sofort den Verdacht gehabt, dass der Wahrsager versuchte, mehr Geld für sich herauszuschlagen, und dass er mit der örtlichen Kupplerin unter einer Decke steckte, aber meine Mutter zögerte keinen Augenblick. Ihre Angst – oder ihr Glaube – war so groß, dass sie nicht einmal meinen Vater um Erlaubnis für diese zusätzliche Ausgabe fragte.
    »Bitte kommt so bald wie möglich wieder«, sagte sie. »Wir warten.«
    Der Wahrsager machte sich auf den Weg und ließ uns alle verwirrt zurück. An diesem Abend sprach meine Mutter nur wenig. Ja, sie wollte mich gar nicht ansehen. Tante machte keine Späße. Meine Großmutter zog sich früh zurück, aber ich hörte sie noch beten. Baba und Onkel machten einen langen Spaziergang. Sogar meine Brüder spürten die Beklommenheit bei uns im Haus und verhielten sich still.
    Am nächsten Tag standen die Frauen früh auf. Diesmal wurden süße Kuchen gemacht, Chrysanthementee aufgegossen und besondere Speisen aus den Schränken geholt. Mein Vater ging nicht aufs Feld, sondern blieb zu Hause, damit er die Besucher begrüßen konnte. Der ganze Aufwand zeugte vom Ernst der Lage. Um alles noch schlimmer zu machen, brachte der Wahrsager nicht nur die Ehrenwerte Frau Gao, die örtliche Heiratsvermittlerin, sondern auch die Ehrenwerte Frau Wang mit, die Kupplerin aus Tongkou, dem besten Dorf im Landkreis. Ich muss dazu sagen, dass bislang noch nicht einmal die örtliche Kupplerin bei uns im Haus gewesen war. Ihr Besuch wurde erst in ein bis zwei Jahren erwartet, wenn sie für Älteren Bruder – bei der Suche nach einer Frau – und für Ältere Schwester, wenn andere Familien nach Bräuten für ihre Söhne suchten, als Vermittlerin dienen sollte. Als also die Sänfte der Ehrenwerten Frau Wang vor unserem Haus hielt, jubelte niemand. Vom Frauengemach aus sah ich, dass Nachbarn aus den Häusern gekommen
waren, um zu gaffen. Mein Vater machte einen Kotau und berührte immer wieder mit der Stirn den Boden. Er tat mir Leid. Baba machte sich ständig Sorgen – das war typisch für jemanden, der im Jahr des Hasen geboren war. Er war verantwortlich für alle in unserem Haushalt, aber so etwas wie hier hatte er noch nie erlebt. Mein Onkel trat von einem Fuß auf den anderen, während meine Tante – die für gewöhnlich offen und fröhlich war – wie erstarrt neben ihm stand. Von meinem Beobachtungsposten oben war auf allen Gesichtern unter mir eindeutig zu erkennen: Irgendetwas stimmte da nicht, ganz und gar nicht.
    Als alle im Haus waren, schlich ich mich leise an den Treppenkopf, um zu lauschen. Ehrenwerte Frau Wang setzte sich. Tee und Leckereien wurden aufgetragen. Die Stimme meines Vaters war kaum zu hören, als er die Höflichkeitsrituale vollführte. Doch
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