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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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Mutter, bedeutet, Ihr solltet noch ein Jahr mit dem Füßebinden warten.« Er hob die Hand, damit ihn niemand unterbrach, als hätte das jemand gewagt. »Sieben Jahre, das ist nicht üblich in unserem Dorf, ich weiß, aber wenn Ihr Eure Tochter anseht, dann begreift Ihr doch, dass …«
    Wahrsager Hu zögerte. Großmutter schob ihm eine Schüssel mit Mandarinen hin, damit er sich seine Worte besser zurechtlegen konnte. Er nahm eine, schälte sie und ließ die Schale auf
den Boden fallen. Eine Spalte hielt er sich vor den Mund und sprach weiter: »Mit sechs bestehen die Knochen noch hauptsächlich aus Wasser und sind deshalb formbar. Aber Eure Tochter ist für ihr Alter noch unterentwickelt, sogar für euer Dorf, das schwere Jahre durchgemacht hat. Vielleicht ist es bei den anderen Mädchen in diesem Haushalt genauso. Das ist kein Grund, Euch zu schämen.«
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich weder angenommen, dass an meiner Familie irgendetwas anders war, noch hatte ich in Betracht gezogen, dass etwas an mir anders war.
    Er steckte sich die Mandarinenspalte in den Mund, kaute gedankenverloren und fuhr dann fort: »Aber Eure Tochter hat noch etwas anderes, außer dass sie durch die Hungersnot klein geraten ist. Ihr Fuß hat ein besonders hohes Fußgewölbe, und das bedeutet, wenn man zum jetzigen Zeitpunkt gewisse Zugeständnisse macht, könnten ihre Füße die vollkommensten in unserem Landkreis werden.«
    Manche Leute halten nichts von Wahrsagern. Manche Leute glauben, dass ihre Empfehlungen sowieso einfach dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Immerhin ist der Herbst die beste Zeit fürs Füßebinden, der Frühling die beste Zeit fürs Kinderkriegen, und ein hübscher Hügel mit einer sanften Brise hat das beste feng shui für eine Grabstätte. Aber dieser Wahrsager sah etwas in mir, und dieses Etwas sollte mein Leben verändern. Dennoch gab es in diesem Moment keine Feier. Im Zimmer herrschte eine unheimliche Stille, und ich wusste, dass immer noch etwas im Argen lag.
    Ehrenwerte Frau Wang unterbrach die Stille. »Das Mädchen ist in der Tat sehr hübsch, aber goldene Lilien sind weitaus wichtiger im Leben als ein hübsches Gesicht. Ein hübsches Gesicht ist ein Geschenk des Himmels, aber kleine Füße können den sozialen Status verbessern. Das wissen wir alle aus Erfahrung. Was darüber hinaus passiert, muss Vater entscheiden.«
Sie blickte Baba direkt an, aber ihre Worte galten eigentlich meiner Mutter. »Es ist gar nicht so schlecht, eine gute Partie für eine Tochter zu finden. Eine hoch stehende Familie bringt Euch bessere Beziehungen, einen besseren Brautpreis und langfristige politische und wirtschaftliche Protektion. Ich schätze zwar die Gastfreundschaft und Großzügigkeit, die Ihr heute gezeigt habt«, sagte sie und unterstrich die Kargheit unseres Heims mit einer trägen Handbewegung, »doch das Schicksal hat Euch – in Gestalt Eurer Tochter – eine Chance gegeben. Wenn Mutter ihre Aufgabe gut erfüllt, könnte dieses unbedeutende Mädchen in eine Familie in Tongkou einheiraten.«
    Tongkou!
    »Ihr sprecht von wundervollen Dingen«, wagte sich mein Vater vorsichtig vor. »Aber unsere Verhältnisse sind bescheiden. Wir können uns Euer Honorar nicht leisten.«
    »Alter Vater«, antwortete Ehrenwerte Frau Wang in ruhigem Ton, »wenn die Füße Eurer Tochter so werden, wie ich mir das vorstelle, dann kann ich mich darauf verlassen, dass mir die Familie des Bräutigams ein großzügiges Honorar bezahlt. Auch Ihr werdet etwas bekommen, und zwar in Form eines Brautpreises. Wie Ihr seht, werden wir beide von diesem Arrangement profitieren.«
    Mein Vater sagte nichts. Er besprach nie mit uns, was auf unserem Grund und Boden passierte, oder ließ uns gar an seinen Gefühlen teilhaben. Doch ich erinnere mich an einen Winter nach einem Jahr der Dürre, als wir kaum Essensvorräte hatten. Mein Vater ging in die Berge zum Jagen, aber selbst die Tiere waren verhungert. Baba blieb nichts übrig, als mit bitteren Wurzeln nach Hause zurückzukehren, aus denen meine Mutter und Großmutter Brühe kochten. Vielleicht erinnerte er sich in diesem Moment an diese Schande und malte sich im Geiste aus, wie gut mein Brautpreis sein könnte und was das für meine Familie bringen würde.

    »Darüber hinaus«, fuhr die Heiratsvermittlerin fort, »glaube ich, dass Eure Tochter auch für einen laotong -Bund in Frage käme …«
    Ich kannte diese Wörter und wusste, was sie bedeuteten. Ein laotong -Bund war etwas völlig
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