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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer
Autoren: L See
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Ehrenwerte Frau Wang war nicht gekommen, um mit unserer niedrigen Familie Trivialitäten auszutauschen. Sie wollte mich sehen. Wie am Tag zuvor wurde ich herbeigerufen. Ich ging nach unten in den Hauptraum, so anmutig, wie es jemand kann, der erst sechs ist und dessen Füße noch plump und groß sind.
    Ich warf einen verstohlenen Blick auf die älteren Mitglieder meiner Familie. Obwohl manchmal die zeitliche Entfernung die Erinnerungen an besondere Momente im Schatten liegen lässt, stehen mir ihre Gesichter an diesem Tag noch ganz deutlich vor Augen. Meine Großmutter saß da und starrte auf ihre gefalteten Hände. Ihre Haut war so zart und dünn, dass ich eine blaue Ader an ihrer Schläfe pochen sah. Mein Vater, der eigentlich schon genug um die Ohren hatte, war sprachlos vor Sorge. Meine Tante und mein Onkel standen beide im Eingang – einerseits fürchteten sie sich davor, Teil der Geschehnisse zu sein, andererseits wollten sie auch nichts verpassen. Doch was ich am deutlichsten in Erinnerung habe, ist das Gesicht meiner
Mutter. Als Tochter hielt ich sie natürlich für hübsch, aber an diesem Tag sah ich zum ersten Mal ihr wahres Wesen. Dass sie im Jahr des Affen geboren war, war mir natürlich nicht neu, doch mir war nie bewusst gewesen, dass sein trügerisches Wesen und seine Verschlagenheit bei ihr so stark ausgeprägt waren. Unter ihren hohen Wangenknochen lauerte etwas Derbes. Hinter ihren dunklen Augen lag etwas Hinterhältiges verborgen. Da war etwas … ich weiß immer noch nicht ganz, wie ich das beschreiben soll. Ich würde sagen, dass so etwas wie männlicher Ehrgeiz durch ihre Haut hindurchschimmerte.
    Ich sollte mich vor Frau Wang hinstellen. Ich fand ihre gewebte Seidenjacke schön, aber ein Kind hat keinen Geschmack, kein Unterscheidungsvermögen. Heute würde ich sagen, die Jacke war auffällig und unpassend für eine Witwe, aber andererseits ist eine Heiratsvermittlerin ja auch keine normale Frau. Sie macht Geschäfte mit Männern, handelt Brautpreise aus, feilscht um die Aussteuer und dient als Mittelsfrau. Frau Wang lachte zu laut, und ihre Worte waren zu glatt. Sie befahl mir, näher zu treten, klemmte mich zwischen die Knie und blickte mir unverwandt ins Gesicht. Mit einem Mal war ich nicht mehr unsichtbar, sondern plötzlich sehr sichtbar.
    Ehrenwerte Frau Wang war viel gründlicher als der Wahrsager. Sie zwickte mich in die Ohrläppchen. Sie legte mir den Zeigefinger unter die Augen und zog die Haut hinunter, dann sollte ich nach oben schauen, nach unten, nach links, nach rechts. Sie nahm mein Gesicht zwischen die Hände und drehte es hin und her. Dann tastete sie meine Arme von den Schultern bis zu den Handgelenken ab. Schließlich legte sie mir die Hände auf die Hüften. Ich war doch erst sechs! Da kann man noch gar nichts über Fruchtbarkeit sagen! Doch genau das tat sie, und niemand versuchte, sie davon abzubringen. Dann machte sie etwas äußerst Erstaunliches. Sie erhob sich und sagte, ich solle ihren Platz einnehmen. Das wäre ganz furchtbar ungehörig von mir
gewesen. In der Hoffnung auf eine Anweisung blickte ich von meiner Mutter zu meinem Vater, aber sie standen beide nur dumm da wie Rindviecher. Mein Vater war ganz grau im Gesicht, und ich hörte ihn beinahe denken: Warum haben wir sie nicht einfach in den Fluss geworfen, als sie geboren wurde?
    Ehrenwerte Frau Wang war nicht die wichtigste Heiratsvermittlerin im Landkreis geworden, indem sie darauf wartete, dass Rindviecher eine Entscheidung trafen. Sie hob mich einfach hoch und setzte mich auf den Stuhl. Dann kniete sie sich vor mich hin und zog mir Schuhe und Strümpfe aus. Wieder völlige Stille. Wie eben schon mein Gesicht, drehte sie nun meine Füße hin und her, dann fuhr sie mir mit dem Daumennagel das Fußgewölbe auf und ab.
    Ehrenwerte Frau Wang sah den Wahrsager an und nickte. Die Kupplerin richtete sich wieder auf und hieß mich durch eine abrupte Bewegung des Zeigefingers aus ihrem Stuhl aufstehen. Nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, räusperte sich der Wahrsager.
    »Eure Tochter hier beschert uns einen besonderen Umstand«, sagte er. »Gestern ist mir etwas an ihr aufgefallen, und Ehrenwerte Frau Wang, die zusätzlichen Sachverstand mitbringt, stimmt mir zu. Das Gesicht Eurer Tochter ist lang und schlank wie ein Reiskorn. Ihre vollen Ohrläppchen sagen uns, dass sie von großzügigem Geist ist. Aber am wichtigsten sind ihre Füße. Ihr Fußgewölbe ist sehr hoch, aber noch nicht voll entwickelt. Dies,
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