Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit
Autoren: Karl Schroeder
Vom Netzwerk:
denen die hellen Räume rings um Virgas künstliche Sonnen gesprenkelt waren, durch Rotation künstlich erzeugt. Dennoch war Chaison sich schmerzlich bewusst, dass dies nicht Slipstreams Himmel war, denn er war in der Stadt Rush mit ihrem dicht bevölkerten Luftraum aufgewachsen. Wenn hier das Licht erlosch, leuchteten keine Habitaträder auf; die Luft war nicht durchsetzt von hausgroßen Wasserkugeln, dünnen Farmnetzen mit mobilen Pflanzengalaxien oder den tausendundein Transportmitteln und Maschinen eines blühenden Handels. Es gab keine feste Grenze zwischen der Zivilisation und dem Winter, aber wenn es sie gegeben hätte, hätten sie sich jetzt mit ziemlicher Sicherheit auf der falschen Seite davon befunden.
    Als es vollends dunkel wurde, versuchten sie zu schlafen. Ohne Erfolg.
    Â»Welche Ironie!«, bemerkte Richard Reiss nach einer Weile. Chaison fuhr zusammen, und ein Ruck an seinem
Hemdärmel verriet ihm, dass es Martor ebenso ergangen war. »Inwiefern?«, fragte er unwirsch. Er hatte ganz leise gehofft, vielleicht hinüberdämmern zu können.
    Richard seufzte tief. »Monatelang träumte ich davon, aus diesem verdammten Dreckloch herauszukommen. Monatelang malte ich mir meine erste Nacht in Freiheit aus. Oh, es waren ausgefeilte Phantasien, meine Herren! Seidene Laken, leichte Schwerkraft, warmer Kerzenschein. Wie ich die Schwerkraft vermisse! Und nun stecken wir hier fest, orientierungslos, in einer Dunkelheit, die noch tiefer ist als zuvor in den Zellen. Wenn ich nicht hören würde, wie Sie atmen und du, Martor, dich unaufhörlich kratzt – nun, ich würde glauben, ich wäre immer noch dort. Diese letzten Stunden – sie kommen mir vor wie ein Traum.«
    Chaison nickte. Während der Nächte in seiner Zelle hatte er manchmal nicht mehr gewusst, wo die Grenze zwischen Traum und Halluzination verlief. In Finsternis und bei Schwerelosigkeit konnte das leicht passieren.
    Martor hatte das Glück gehabt, die kleine Zentrifuge des Gefängnisses benützen zu dürfen. Wenn sie nicht gegen die Schwerkraft ankämpfen mussten, wurden selbst Insassen mit wahrhaft eisernem Willen im Lauf der Zeit allmählich schwächer. Schon nach wenigen Monaten wurden die Knochen brüchig, man konnte kaum noch die Glieder bewegen, geschweige denn sich wehren, wenn die Wärter kamen, um einen zu holen. Allein der Verzicht auf Schwerkraft garantierte der Falkenformation, dass in ihrer Anstalt Ruhe herrschte und niemand an Aufruhr dachte.

    Chaison hatte sich gegen den Kräfteverlust gewehrt. Jeden Morgen, sobald mit dem Licht die Welt zu ihm zurückkehrte, streckte er seine Glieder und hüpfte sachte von einer Wand zur anderen. Wenn er mit den Fingern der linken Hand den Beton berührte, stieß er sich ab und spürte Augenblicke später die gegenüberliegende Wand unter der Rechten. Als Nächstes stieß sich erst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß ab. Das wiederholte er in allmählich steigendem Tempo, bis er schließlich mit beiden Füßen Schwung holte und sich mit beiden Händen abfing – oder, wenn das nicht gelang, über die Schulter abrollte. Er hatte jede Möglichkeit herausgefunden, wie man sich an diesen Wänden sportlich betätigen konnte, und dabei jeden Vorsprung, jede Unregelmäßigkeit kennengelernt, die den Erbauern unterlaufen waren.
    Doch trotz all des Trainings war ihm im Lauf der Monate eines immer mehr abhanden gekommen: das Gefühl, ein Ziel zu haben. Für Chaison hatte zeit seines Lebens die Pflicht im Vordergrund gestanden, und auf einmal hatte er keine Pflichten mehr. Ohne sie war er seelisch verkümmert.
    Jetzt klammerte er sich an diese beiden Männer, nicht, weil er Schutz oder Gemeinschaft suchte, sondern weil sie ihm eine Berechtigung für seine Existenz lieferten.
    Er würde sie sicher nach Hause geleiten.
    Â»Morgen steht uns ein ereignisreicher Tag bevor«, sagte er. Richard grinste nur höhnisch, und Martor knurrte etwas Unverständliches.
    Doch dann musste der Junge lachen. »Wie kann ich mich beklagen? Ich sollte dankbar sein!«

    Â»Wer hätte das gedacht?«, kam es von Richard. »Dankbar dafür, dass man zitternd und frierend irgendwo im Dunkeln in einer Wolke schwebt?«
    Aus irgendeinem Grund fanden sie das alle zum Schreien komisch und lachten hysterisch und ein klein wenig zu laut.
    Â»Hör zu, Martor«, begann Chaison nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher