Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit
Autoren: Karl Schroeder
Vom Netzwerk:
hochgezogener Augenbraue fragend an. Er zuckte die Achseln.

    Â»Nicht hier«, meldete er. »Aber als ich ihn zum letzten Mal sah, war er frei.«
    Venera zog sich mit einem Fluch zurück. Sekunden später heulten die Triebwerke auf, und der Schlepper schoss davon. Der Besucher stand am Fenster und beobachtete, wie er im Nebel verschwand.
    Danach warf er einen Blick in die Runde. Hier am Rand der Falkenformation schwebten Hunderte von Wolken in der freien Luft. »Viel Glück beim Suchen!«, sagte er und lachte kurz auf. Schließlich kehrte er an seinen Tisch zurück, um seinerseits auf Befreiung zu warten und sich schon einmal zu überlegen, wofür er das Geld ausgeben wollte, mit dem ihn die geheimnisvolle Frau bezahlt hatte.

2
    Chaison und seine Männer kauerten die ganze Nacht im dünnen Nebelgespinst im Herzen einer riesigen Wolke. Auf dem Weg aus dem Gefängnis hatte der junge Martor einen kleinen Pedalflieger geklaut, den sonst der Gärtner der Anstalt benützte. Der Flieger bestand aus zwei Riemen, die man über die Schultern streifte, einer kurzen Stange mit einem Sitz und zwei Pedalen über einem Ein-Meter-Propeller. Einem unbeteiligten Zuschauer hätte sich ein ungewohntes und klägliches Schauspiel geboten: drei Gefangene auf dem Weg zwischen Wolken von der Größe von Städten, von denen einer wie wahnsinnig in die Pedale trat und die beiden anderen sich an seinen Schultern festhielten. Zur Linken standen die Wolken im Schein einer fernen Sonne als graue Silhouetten an einem strahlend blauen Himmel. So weit das Auge reichte, wogten und wirbelten reihenweise weiße Nebelfahnen über das Blau. Zur Rechten erstrahlten die Wolken im Widerschein, doch dahinter klaffte ein bodenloser indigoblauer Abgrund. Kein künstliches Licht erhellte diese Tiefen; in der Hölle namens Winter gab es keine Wohnstätten.
    Sie hatten ausgiebig debattiert, ob sie diese Route nehmen sollten. »Hier findet uns keiner!«, hatte Martor beteuert. »Wir können uns im Halbdunkel am Rand
der Zivilisation entlangschleichen, bis wir den Rand von Slipstream erreichen. Dann …« Richard Reiss hatte ihn mit zynischem Lachen unterbrochen.
    Â»Drei entkräftete, halb verhungerte Gefangene in dünnen Fetzen? Junge, du willst also, dass wir uns in Kälte und Finsternis stürzen und mit diesem Maschinchen«, er zerrte an den Riemen des Fliegers, »siebenbis achthundert Kilometer weit strampeln, bis wir sicheres Territorium erreichen? Wovon sollen wir uns ernähren? Von Hoffnung?«
    Sie hatten sich wütend angestarrt. Fanning musste lächeln. Die beiden waren so grundverschieden. Niemand hätte die Fassade, die Richard der Welt präsentierte, seine breiten Wangenknochen, die hohe Stirn und die vornehme Nase, mit der Schläue verwechseln können, die einem aus Martors Gesicht förmlich entgegensprang. In seinem jetzigen Zustand, so ausgehungert und verdreckt, schien Martors wahres Ich noch stärker zum Vorschein zu kommen – schließlich war er nichts anderes als ein angehender Falschspieler, Trickbetrüger und Kasernenschwindler. Der würdevolle, wenn auch schmuddelige Poseidon und der Alptraum jeder Mutter waren ebenbürtige Gegner.
    Chaison ließ sie eine Weile weiterzanken, denn das holte sie aus ihrer Lethargie. Doch irgendwann erklärte er: »Ich muss Richard beipflichten. Wir brauchen Essen und bessere Kleidung. Außerdem finden uns die Haie von der Polizei, ob es hell oder dunkel ist – sie sind schneller und können weiter fliegen als wir.«
    So steuerten sie vorsichtig in einen grauen Dunstkokon hinein, als die drei Sonnen der Falkenformation flackernd erloschen, und trafen Vorbereitungen für die
Nacht. Sie rissen sich die Ärmel auf und verknüpften die losen Enden miteinander. Martor, der ironischerweise der Kräftigste von den dreien war, behielt die Riemen des Fliegers über der Schulter. Jeder durchsuchte automatisch seine Taschen auf alles, was davonschweben könnte, obwohl sie den Inhalt der gestohlenen Wärteruniformen an diesem Tag bereits mehrmals überprüft hatten.
    Wo der Nebel aufriss, zeigten sich Wolkenschatten und lange rosarote Lichtstreifen am Himmel. Es waren vertraute Bilder, die die Gemüter beruhigten: Jeder der Männer war in dieser Welt aus Luft geboren und aufgewachsen. Die einzige Schwerkraft, die sie kannten, wurde in den radförmigen Habitaten, mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher