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Seepest

Seepest

Titel: Seepest
Autoren: Manfred Megerle
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aufgefallen ist. Möglicherweise haben sie
dabei aber nur an Autos gedacht. Vielleicht gondelt unser Täter ja mit einem
Zweirad durch die Gegend, wozu bekanntlich auch Fahrräder gehören.«
    Jo mischte sich ein. »Ich hab mir übrigens mal die
Wetterberichte der Tatnächte herausgesucht. In allen drei Fällen war das Wetter
recht ordentlich, präziser gesagt: bewölkt und daher mondlos, aber trocken. Und
windig. Vielleicht ist das der Grund, warum niemand etwas gehört und wir auch
keine Fuß- oder Reifenabdrücke gefunden haben.«
    »Das soll heißen?«
    »Nun, scheint so, als hätte sich der Täter mit Bedacht
solche Tage ausgesucht, an denen er nicht auf Anhieb gehört und gesehen werden
konnte. Könnte doch sein, oder?«
    »Eine interessante Theorie. Gut gemacht, Jo.«
    Wenig
später saß Wolf neben ihr. »Dein Auto ist immer noch rauchfreie Zone?« Ein
Fünkchen Hoffnung klang bei dieser Frage durch.
    »Klar. Sie können sich ja vorher noch eine reinziehen!«
    »Danke, der Anfall ist schon vorüber.« Wolf schnallte
sich an und hoffte inständig, die Fahrt ohne Schweißausbrüche zu überstehen. Jo
war für ihren Fahrstil – er hätte das Wort »Flugstil« treffender gefunden – in
der ganzen Dienststelle bekannt. Dabei fuhr sie keineswegs riskant oder gar
unsicher. Aber sie holte aus ihrem quietschgelben Beetle stets das Letzte
heraus, suchte bei jeder Kurve grundsätzlich die Ideallinie und stieg erst in
die Bremsen, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ.
    »Hab ich das wirklich nötig, in meinem Alter?«, schoss
es Wolf durch den Kopf, als der Motor aufheulte.
    Das Wetter hatte sich inzwischen eines Besseren
besonnen. Als sie den Tatort in der Nähe des Spetzgarter Jachthafens
erreichten, schwebten hoch über dem See bereits wieder Wattewolken. Von Süden
her blies eine kleine Brise, zarter Oktoberblütenduft hing in der Luft.
Altweibersommer am Schwäbischen Meer.
    Die milde Witterung stand in schroffem Gegensatz zu
dem Anlass, der Wolf und seine Kollegin an diese Stelle des Sees führte. Schon
von Weitem hatte Wolf das rotierende Blaulicht des Streifenwagens entdeckt, der
an der Verbindungsstraße von Überlingen nach Sipplingen stand, halbwegs
zwischen den Heidenhöhlen und der Einmündung in die alte B31. Ein zweiter
Wagen mit der Aufschrift »Notarzt« parkte dicht davor. Jo fuhr langsam an den
Fahrzeugen vorbei und stellte ihren Beetle ab. An dieser Stelle trennte nur
noch die Bahnlinie die Straße vom Seeufer. Der Uferstreifen selbst war nicht
breiter als fünf Meter und teilweise mit dichtem Gebüsch bewachsen. Unweit des
Ufers dümpelte ein Boot mit der Aufschrift »Wasserschutzpolizei«, zwei
Steinwürfe weiter konnte Wolf die Mastspitzen des Spetzgarter Jachthafens
erkennen.
    Jenseits der Bahnlinie tauchte ein grün uniformierter
Kollege der Schutzpolizei auf und winkte ihnen zu. Wolf und Jo schlitterten die
steile Böschung hinab und erklommen anschließend den Bahndamm, den sie rasch
überquerten.
    »Ich geh mal eben vor«, sagte der Schupo nach einer
kurzen Begrüßung. Wieder einmal plagte Wolf sein nachlassendes
Namensgedächtnis. Er war sicher, den Kollegen flüchtig zu kennen und eigentlich
auch seinen Namen wissen zu müssen, doch der wollte und wollte ihm nicht
einfallen.
    Nach wenigen Schritten waren sie am Ziel. Die Tote lag
direkt am Seeufer. Man hatte sie gerade so weit aus dem Wasser gezogen, dass
der Oberkörper auf dem Trockenen lag. Ein Kollege von der Wasserschutzpolizei
machte Aufnahmen. Der See zeigte sich ruhig, hin und wieder bildeten sich
kleine Wellen, die dort, wo sie auf Land trafen, den Strandkies sanft hin und
her rollten und dabei ein monotones, sich rhythmisch wiederholendes Rauschen
erzeugten, als würden tausend Murmeln gleichzeitig in einer Schüssel hin und
her geschwenkt.
    Während der Körper der Toten noch in Taucheranzug und
Schwimmflossen steckte, hatte man ihr Maske und Atemgerät bereits abgenommen,
sodass Wolf ihr Gesicht sehen konnte. Sie mochte um die fünfzehn, sechzehn
Jahre alt sein, hatte leuchtend blaue Augen und ebenmäßige, weiche
Gesichtszüge, die von kurzen, goldblonden Strähnen umrahmt wurden. Sie stand an
der Schwelle vom Kind zur Frau, wirkte gleichzeitig mädchenhaft und doch schon
voll entwickelt, unschuldig und doch wissend. Aus ihr, dachte Wolf, wäre
zweifellos eine Schönheit geworden. Lediglich die großen Pupillen in den noch
immer offenen Augen und die bleiche, wächserne Gesichtsfarbe deuteten darauf
hin, dass sie ihr
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